Frei sein ums Verrecken

»Baal« mit Thomas Thieme und Arthur Thieme am Berliner Ensemble

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Höchstwahrscheinlich kommt das Wort »Himmel« am häufigsten vor im Stück. Himmel, der jene Wolke trug, die »ungeheuer oben« war, als Baal liebte. Eine Frau, die er vergaß. Die Wolke vergaß er nicht. Himmel ist ein Versprechen: Die Welt steht offen, nach dorthin, von wo man herunterblicken kann auf die Feigen, die Vorsichtigen, die Vernutzbaren. Baal blickt gern nach oben, um im Vollgenuss der Verachtung und der Lebensgier herablassend sein zu können.

In Bertolt Brechts frühem dramatischem Geniestreich geschieht Freiheit als ungestümes Vorwärtsstampfen. Ins gefährlich Ungebundene, ins grinsend Unverantwortliche, ins lustvoll Brutale. Fantasien in einem Geist, Rauschzustände in einem Körper, Schreckensenergien in einer Seele - das schafft den Boden für die ewige Wahrheit: dass unergründliche Dunkelheit in jedem Ich existiert. Und die Welt also einigermaßen unerkennbar bleibt. Zum Glück für die Dichter, die für ihr Werk den unglücklich suchenden Menschen benötigen. Für das rigorose Subjekt bei Nietzsche war die Welt ein Grund, alles in Brand zu setzen. Auch Brecht ist im »Baal« noch an die rohe Willkür seiner Subjektivität gebunden. Noch. Er fängt ganz böse an mit seinem Dichten, so böse, wie heute kaum noch jemand böse ist, nicht mal mehr in den Absagen an den Menschen. Selbst die Kultur der zeitgemäßen Verlöschens ist läppisch geworden.

Schauspieler Thomas Thieme erarbeitete mit seinem Sohn, dem Musiker Arthur Thieme, eine konzertante Aufführung des »Baal«, eine Produktion des Brecht-Festivals Augsburg. Nun ein Gastspiel am Berliner Ensemble. Eine Collage aus den fünf Fassungen des Stücks. Thieme spricht alle Rollen, ohne sie zu wechseln. Das erklärt er dem Publikum zunächst, gleichsam als Privatier mit rotem Basecap und in zugeknöpfter Jacke, »ich bin sozusagen das einzige lebende Programmheft«. Nicht alle begreifen, dass dies eine Warnung ist. Thieme warnt witzig vor Thieme.

Die Bühne weit bis an die Brandmauer. Schwärze. Es wird blau und rot glühen nachher. Wenn Thomas Thieme im weißen Hemd am Mikrofon steht, und Arthur Thiemes Gitarre dröhnt, jault, schlägt, klopft, peitscht; dazwischen keckes Pfeifen, ein leises wehes Schwingen - auch die Blüten des Sumpfes, der sich auftut, sind schön. Ein Konzert der Schmerzenstöne. Der Schauspieler prustend, pressend, parlierend im Bade des Langgedichts. Ein Panoptikum der Geilen, Geldgierigen, Garstigen, Gaunernden, Gutseinwollenden, Geliebtwerdenwollenden, Gedemütigten. Dem Stück ist nur erlaubt geblieben, dass man es ahnt. Die Personen haben nicht sie selbst zu sein. Sie sind die Textspaghettifäden eines allesfressenden Protagonisten. Thieme steht im Saft und geht auch mal ins Sabbern. Züngelt ununterbrochen weibwärts. Ein berauschter, besengter, berserkerischer Monologist.

Alfred Kerr meinte einst zum »Baal«, das sei kein Stück, aber »ein Chaos mit Möglichkeiten«. Dichter Baal will sich verwesentlichen, aber er wird verwesen wie alles; er will etwas auslösen, aber er endet in Auslöschung. Er aast mit Nahrung, Frauen, Wörtern. Thieme ist hier, was er immer ist: fesselnd und abstoßend zugleich. Ein Ereignis aus Anwurf und Abscheu. Knallt, schimpft, stöhnt, haucht, brüllt, bebt, schnauft ein Gemisch zusammen, dass die Sinnfetzen fliegen. Auffliegen, wegfliegen. Ja, manchmal ist alles weg, was durch Thieme doch so ungeheuer präsent sein soll. Es ermüdet auch. Er kann das: ermüden. Er ist ein sturer Spieler. Bis zur Peinlichkeit exzessiv, wenn das Saubere, Geschmackvolle, Gemäße attackiert werden soll. Grölender Golem, maßlos im Verrat am Feinen. Der Mensch als Lawine. Schmiert den Leuten auch Schmalz ums Hirn. Ein Catcher im Kostüm aus Kraft und Kitsch. Geht in euch, die ihr da zuhört. Oder geht weg! Was einige Zuschauer auch taten.

Baal. Zwischen Wehmut und Ironie steigt eine Ahnung vom »neuen« Übermenschen auf, der sich anschicken wird, eine Welt zu tragen. Aber der Mensch ist kein Himmel, er steht immer dann am tiefsten Punkt, wenn er ganz oben sein will. Sterne, Sterne, Sterne, Sterne, Sterne!, japst, röchelt Thieme, aber verreckt werden muss unten, wo keinem ein Gestirn aufgeht. Baal, ein Klumpen rohes Fleisch aus den Ekstasezeiten des Ersten Weltkriegs; ein haltbarer Konjunkturklumpen aber, an dessen Schweiß auch wir Heutige gern nippen - weil uns vor dem grausen könnte, was uns moderne Biederlinge zum Schwitzen bringt. Wir - und modern? Ach, wir modern doch nur (der letzte blasse und banale Auswurf an Verruchtheit ist ein Flintenweib als Militärministerin).

In der posierenden Massivität Thiemes lebt auch eine schöne Ironie, ein selbstbewusstes Relativierungsvermögen, etwas, das die Aggressivität dieser Ausstrahlung zur Freude macht. Weil da einer mit Obsession seine Arbeit lebt. Thieme kann nicht anders: Er kann nicht spielen, als sei er nicht bei sich selbst.

Vieles an ihm ist Slang. Das macht die Unverwechselbarkeit seines Spiels, macht das Fett seiner Romantik aus. Auch die Gefährdung. Thieme weiß um seine Ausstrahlung; seine Liebe zum Publikum hält sich in Grenzen, er kennt es nicht, er kennt kein Pardon. Gegenangriffsflächenkunst. Völlige Verausgabung für die Dialektik von König und Kreatur, Mensch und Maschine, Mann und Monster. Völlige Verausgabung - und durchsichtiges Spiel von Verausgabung: Schweiß abwischen, nach Luft schnappen, das Gesicht hängen lassen wie einen ausgewrungenen Lappen. Das kann er, das zelebriert er. Thieme schmeißt um sich, mit Thieme. Ein Trotz- und Motzbrocken einmaliger Art.

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