Kapitalismus, ganz unten
Arbeitnehmerfreizügigkeit: Die aktuelle Debatte stellt einen verzerrten Blick auf die Einwanderung aus Osteuropa dar
Ein ehemals erfolgreicher Radiodampfplauderer träumt davon, »Roma-Banden« in eine Sauna zu sperren und sie »ausschwitzen« zu lassen. Hunderte Internetnutzer applaudieren, einige der über 9000 Facebook-Fans des wenig moderaten Moderators kritisieren, dass der »politisch inkorrekte« Scherz zwar gut, die Auschwitz-Andeutung indes ein wenig übertrieben sei.
Zur Erinnerung: Im »Zigeunerlager Auschwitz« wurden knapp 20 000 Roma und Sinti vernichtet. Bis zu einer Million Menschen fielen dem Porajmos, dem industriell betrieben Genozid an den europäischen »Zigeunern«, zum Opfer. Doch wenige Tage vor dem 1. Januar 2014, ab dem Freizügigkeit auch für Arbeitnehmer aus Rumänien und Bulgarien gilt, interessieren sich nur wenige für die Tiefpunkte deutscher Geschichte.
Die CSU will bei der Fraktionsklausur ihrer Landesgruppe im Bundestag vom 7. bis 9. Januar in Wildbad Kreuth unter anderem ein Papier zur Zukunft der Kommunen beschließen. Die vierseitige Beschlussvorlage trägt den Titel »Dort, wo die Menschen wohnen: Die Belange der Kommunen zukunftsfest gestalten«. Darin enthalten ist auch die umstrittene Passage zur sogenannten Armutszuwanderung:
»Keine Armutsmigration in die Kommunen begünstigen: Wir stehen zur Freizügigkeit in der EU. Eine Zuwanderung in unsere sozialen Sicherungssysteme lehnen wir jedoch ab. Der fortgesetzte Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch Armutszuwanderung gefährdet nicht nur die Akzeptanz der Freizügigkeit bei den Bürgern, sondern bringt auch Kommunen an die Grenzen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit.
Wir werden falsche Anreize zur Zuwanderung verringern und streben nationale und europäische Lösungen zur Verhinderung von Missbrauch an. In diesem Zusammenhang prüfen wir eine generelle Aussetzung des Bezuges von Sozialleistungen für die ersten drei Monate des Aufenthaltes in Deutschland. Darüber hinaus werden wir die Kommunen dabei unterstützen, Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit zu bekämpfen sowie die Verhängung von Wiedereinreisesperren ermöglichen.
Wenn beispielsweise Dokumente gefälscht wurden oder Sozialleistungsbetrug nachgewiesen wurde, muss es eine Möglichkeit geben, die betroffenen Personen nicht nur auszuweisen, sondern auch an der Wiedereinreise zu hindern. Hier muss gelten: »Wer betrügt, der fliegt.« Gleichzeitig sind die Kommunen aber auch selbst gefordert, ihren Verwaltungsvollzug und die Zusammenarbeit mit dem Zoll zu verbessern.« dpa/nd
Auch beim seriösen »Deutschlandfunk« meldeten sich gestern Dutzende Zuhörer zu Wort, die eine drastische Abschottung gegenüber den Armen aus dem Osten fordern. Sie sind in der Mehrheit. Deutlich.
Die CSU wird derweil wegen markiger Sprüche kritisiert. Doch die Formel »Wer betrügt, der fliegt« steht, etwas verklausuliert, im Koalitionsvertrag, der auch von den Spitzen der SPD unterschrieben wurde. »Wir wollen die Akzeptanz für die Freizügigkeit in der EU erhalten«, ist da zu lesen. Deswegen will Schwarz-Rot »Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme« verringern, insbesondere durch »konsequenten Verwaltungsvollzug« und »befristete Wiedereinreisesperren«.
Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme? Die reale Situation vieler armer arbeitssuchender Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien beschreibt unter anderem die herausragend gute ARD-Reportage »Die neuen Slums«. Das Privileg, ein Kellerdach über dem Kopf zu haben, plus ein zweistelliger Eurobetrag sind demgemäß mitunter die Entlohnung für einen Monat Drecksarbeit in Dortmund, einer Großstadt in Deutschland.
Andere Armutseinwanderer verdingen sich auf dem »Arbeiterstrich« - sie stehen am Straßenrand und nehmen jede noch so schlecht entlohnte Arbeit an. Auf dem anderen Strich, in der Straßenprostitution also, sollen sich Romni für fünf Euro angeboten haben.
Sie brauchen schließlich das Geld. Eine schmuddelige Matratze in einer überbelegten Wohnung kostet bis zu 300 Euro »Miete« pro Monat. So sind, verglichen mit einer regulären Vermietung, fünf Mal höhere Erlöse zu erzielen.
Das Geschäft mit der Armut - oft wird es von Migranten betrieben, in Dortmund beispielsweise von einem türkischstämmigen Kioskbesitzer, der sich »Kral«, zu deutsch »König« nennt. In Duisburg verdient sich eine Rocker- und Rotlichtgröße dumm und dämlich an mehreren »Problemhäusern«, in denen hunderte Roma auf engstem Raum hausen. Zum Abkassieren soll Branko Barisic Rocker in entsprechender Montur vorbei schicken. Jetzt will Barisic seine einschlägigen Häuser sukzessive räumen. Angeblich sind sie ein Verlustgeschäft.
Im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück verdient derweil ein hochangesehener, durch und durch deutscher Bürger an der Not der Einwanderer: Clemens Tönnies ist der starke Mann des Fußballbundesligisten FC Schalke 04, Vorstand des Vereins »Kinderträume« (der sich öffentlichkeitswirksam um in Not geratene Familien mit behinderten Kindern kümmert) und Boss des größten Fleischimperiums Deutschlands.
Doch Tönnies steht in der Kritik von Christen, Ärzten, Gewerkschaftern und Linkspartei vor Ort: Es fallen Worte wie »menschenunwürdig«, »Knochenjob« und »Ausbeutung«, wenn sich die bunt zusammengewürfelte »Interessengemeinschaft zur Verbesserung der Lebensqualität für Werkvertragsarbeiter« trifft. Ende November fand ein Sternmarsch statt, der »die Arbeits- und Lebensbedingungen« der vielen Dutzend Leiharbeiter aus Rumänen und Bulgaren kritisierte, die für Tönnies Tiere töten und zerteilen.
Nicht zimperliche Subunternehmer, extrem schlecht entlohnte Leiharbeit auf Basis höchst zweifelhafter Werkverträge, Lohnbetrug, miserable Wohnbedingungen, Repressalien durch Vorarbeiter, keine ordentliche Krankenversicherung - für die Initiative ist all das auch der hohe Preis des hohen Konsums möglichst billiger Steaks, Koteletts und Buletten.
Tönnies Hausjurist betont, das Unternehmen wandele auf dem Boden geltender Gesetze.
Laut einer EU-Studie bringen rumänische und bulgarische Migranten dem deutschen Staat mehr Steuern und Sozialbeiträge ein, als dieser an Sozialleistungen auszahlen müsse. Doch die unwürdigen Lebensbedingungen vieler Roma in Deutschland, ihre Armut, die »Problemhäuser«, die sich überfordert wähnenden Städte?
Sie könne die Klagen einzelner Kommunen verstehen, sagt Annelie Buntenbach, Vizevorsitzende des DGB. »Doch das Problem ist meist, dass dort die Beschäftigungslage insgesamt besonders problematisch ist und gleichzeitig Integrationsmaßnahmen der Sparpolitik zum Opfer gefallen sind.« Buntenbach fordert eine bessere Unterstützung der betroffenen Städte.
Die Probleme seien in Brüssel bekannt, betont Sozialkommissar László Andor. Ein wesentlicher Grund dafür sind für den ungarischen Sozialdemokraten die miserablen Beschäftigungsbedingungen. Insbesondere in der Fleischindustrie.
Namens der Bundesregierung verkündete unlängst Sozialstaatssekretärin Anette Kramme (SPD) in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion, sie könne das »nicht nachvollziehen«. Schließlich sei der Bundesregierung nicht bekannt, »auf welcher Basis Andor diese Aussage getroffen hat«.
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