Vorerst keine Staatshandtücher!

Der Satirekandidat, der die Wahl gewann - Reykjaviks Jón Gnarr in der Berliner Volksbühne

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit mit Margaret Thatcher das TINA-Prinzip in der Politik Einzug gehalten hat, ist dieselbe immer ein wenig lächerlich: Ausgeschrieben und übersetzt bedeutet »There Is No Alternative« nämlich »Sie haben keine Wahl« - und doch dreht sich das Karrussell nur um das Wählen.

Es ist kein Wunder, dass in jüngerer Zeit ein Boom von Satireparteien zu verzeichnen ist, die auf diesen Widerspruch zeigen. Gerade Berlin hat in dieser Hinsicht eine große Tradition, die lange vor Martin Sonneborns PARTEI und auch vor Christoph Schlingensiefs »Chance 2000« existierte: Die Kreuzberger Patriotischen Demokraten/Realistisches Zentrum (KPD/RZ), die »Friedrichshainer Amorphen Zentralisten« (FAZ) oder die jungen Kräfte von der »Bergpartei«. Die echte Politik ist so bizarr, dass das immer wieder witzig ist.

Was aber passiert, wenn eine solche Partei gewinnt? Dies ist im Grunde die unglaubliche Geschichte von Jón Gnarr, dem noch amtierenden Bürgermeister von Reykjavík. Er errang mit seiner »Besten Partei« 2010 aus dem Stand 34,7 Prozent, womit er die Konservativen um 1,1 Prozentpunkte hinter sich lassen und mit den Sozialdemokraten ein Bündnis schmieden konnte. Gewissermaßen pünktlich zum Ende von Gnarrs Amtszeit erscheint nun sein Buch über seine Ansichten, sein Leben und seine Partei.

Dass dessen Titel »Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!!« lautet, ist ein Witz. Es handelt sich, wie Gnarr am Freitagabend bei einer zusätzlich mit Richard David Precht bestückten Buchpräsentation im großen Saal der Volksbühne sagte, schlicht um den einzigen Satz, den er sich von seiner Sprachkurs-CD, mit deren Hilfe er Deutsch zu lernen beabsichtigte, merken konnte. Gewissermaßen beschreibt der Satz aber auch seine (und anderer Parteisatiriker) Methode, die Gnarr im Buch den »handgestrickten Surrealismus« nennt: Erst ganz genau hinschauen und das ganze dann nur zugespitzt wiederholen. Wählen Sie nicht bloß die annehmbarste oder die »Geht-gerade-noch-so«-Partei, Wählen Sie die »Beste Partei«! Könnte ich das ernsthaft schlechter machen? Wo es doch sowieso keine Alternative gibt?

Kaum jemand war jemals so intim mit TINA wie Island nach dem Crash. Über Nacht erfuhren die Bürger, dass sich ihre privaten Schulden gerade verhundertfacht hatten. Die Banken hatten Kredite aufgehäuft, die das Sozialprodukt des 350 000-Seelen-Staates um ein Vielfaches überstiegen, es regierte der IWF. Precht, der aus der Nähe sympathischer wirkt als im Fernsehen, erläuterte dies sehr anschaulich. Um satirisch zu wirken, musste Gnarr noch nicht einmal schrill sein. Selbst die abseitigsten Punkte in seinem Wahlprogramm - kostenlose Zahnarztbehandlungen für Kinder und Benachteiligte, Gratis-Handtücher in den Badeanstalten, die im nasskalten Island einen hohen Stellenwert haben - wären normalerweise ja nicht indiskutabel.

Wenn man weiß, dass Gnarr nicht bloß ein Reykjaviker Sonneborn ist, sondern eine Mischung aus demselben und einem kultigen Tatort-Kommissar, scheint sein Sieg schon weniger märchenhaft. Dennoch war er natürlich überrascht, sich plötzlich selbst persönlich und dauerhaft mit TINA konfrontiert zu sehen. Zwar hatte er sich programmatisch dahingehend abgesichert, man werde alle Versprechen bei Bedarf über Bord werfen. Doch in einem Staat, in dem am Ende jeder jeden kennt, scheint dies nicht so lustig gewesen zu sein wie der Internetwahlkampf. An einer Stelle erwähnt Gnarr, dass seine »Umstrukturierungen« beim städtischen Stromversorgungsunternehmen den Vater seiner engsten Mitarbeiterin den Job kosteten. Bezüglich solcher Details aber wird das Buch recht schmallippig. Was hätte man anderes tun sollen?

Bis heute gibt es keine Staatshandtücher in Reykjavik. Doch hat sich Gnarr, vielen Unkenrufen zum Trotz, auch nicht blamiert. Besagtes Energieunternehmen, dass sich international verzockt hatte, ließ sich sanieren. Es wurde in Fahrradwege und sogar weiter in Kultur investiert. Vielleicht war die Wahl des besonders in dieser Hinsicht umtriebigen Jón Gnarr ganz objektiv ein Glücksfall für das Reykjaviker Stadtmarketing. Er selbst jedenfalls klingt, wenn er über die Kultur- und Friedensstadt Reykjavik spricht, schon ganz nach Politik.

Die »KPD/RZ« drohte einst, im Fall eines Wahlsiegs in den Untergrund zu gehen. Auch Gnarr hat offenbar gemerkt, dass man sich nicht ohne Folgen mit TINA verabredet. Trotz guter Umfragen werde er nicht wieder kandidieren, die Partei löst sich auf. Noch ist er der Komiker, der einmal ein Bürgermeister war, in einer zweiten Amtszeit wäre es umgekehrt. Noch lange werden sich seriöse Stadtpolitiker mühen, sich in die Tradition eines tätowierten Clowns zu stellen. Womit auch dem Spaß genüge getan sein dürfte - und das über Jahre.

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