Krank ist das System

REZENSION

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 2 Min.

»Wenn Sie die Wahl haben, meiden Sie grundsätzlich jedes Krankenhaus.« Das ist ein Satz, den man sich nicht oft genug sagen kann. Vor allem den Hauptsatz. Dass man, als Kranker, häufiger als gedacht die Wahl hat, und dass und warum man vermeiden sollte, sich in Deutschland freiwillig in ein Krankenhaus zu begeben - das Buch von Paul Brandenburg öffnet einem die Augen.

Der Autor, selbst ärztlich tätig, hat sich vom Krankenhausbetrieb abgewendet, weil, so seine Aussage, das derzeitige Gesundheitssystem hierzulande verhindert, dass das Patientenwohl über allem steht. Viele Ärzte geraten daher in ethische Konflikte. »Wer sich im Interesse des Patienten dem System widersetzt«, schreibt er anhand eines Beispiels, »riskiert Ausbildung, Karriere und Arbeitsplatz«. Nicht, dass Brandenburg es generell infrage stellte. Es gebe keinen Grund, sich vor einem Krankenhausaufenthalt zu fürchten, betont er. Dass man dennoch besorgt sein muss, wenn erst einmal der erste Schritt getan ist, das können seine Schilderungen von den Mechanismen, die den Krankenhausalltag bestimmen, nicht wegwischen. Nicht umsonst verweist dieser Insider auf die Internetplattform Medleaks. Dort reden Whistleblower, ebenso aus eigener Anschauung, Klartext. Während Brandenburg so manches über die Missstände einer offensichtlichen Fehlkonstruktion in diplomatische Wolken bettet. (Den Lesern des Buches sei die Internetseite medleaks.org als ergänzende Lektüre empfohlen.)

Die »eigentliche Verfehlung der Klinik«, schreibt der Autor, bestehe in der »Entmenschlichung aller Beteiligten« - Patienten, Ärzte, Pfleger - durch »ein gnadenloses Konkurrenzsystem«, dem heute alle Krankenhäuser unterworfen und wodurch Pfleger und Ärzte zum »ständigen Abwägen zwischen guter Medizin und einem guten Betriebsergebnis« gezwungen seien. Bettenauslastung, Fallpauschalen gehören da zu den markanten Stichworten. Das Vertrauen zwischen Patient und Therapeut - »Kern jeder medizinischen Behandlung« - werde zerstört. Wie sehr auch der chronische Zeitmangel seitens der Mediziner und Pfleger ein Krankmacher geradezu ist, beschreibt Brandenburg anschaulich.

Der Schreibstil ist unterhaltsam und aufs Verstehen des Lesers aus. In 46 Kapiteln, die zumeist mit Fragen überschrieben sind, die sich dem (potenziellen) Patienten stellen oder die er mit erwägen sollte, gibt er Tipps, wie man sich, so es doch zu einem Klinikaufenthalt gekommen ist, am besten verhält. Und, kein Scherz: Wer glaubt, ein Notfall zu sein und eine Rettungsstelle aufsuchen will, dem rät er, sich statt dessen abzulenken vom Schmerz, doch lieber fernzusehen, zum Beispiel, und: »Am besten aber wäre, Sie hätten Sex.«

Dr. med. Paul Brandenburg: Kliniken und Nebenwirkungen. Überleben in Deutschlands Krankenhäusern. Scherz Verlag, 207 S., 13,99 €.

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