Nicht ohne Fernbedienung
Autorentheatertage am Deutschen Theater: Basel zeigt Marthaler
Um den Bürger steht es schlecht. Das wissen wir. Es ist ja auch schon spät geworden für ihn - was an sich keinen Anlass zur Freude gibt. Aber da es so lange schon so schlecht um ihn steht, geht es hier so zwanglos im wohldrapierten Wohnzimmer zu wie in einer Präparate-Show des unheiligen Herrn Gunther von Hagens.
Zumal Christoph Marthaler nicht der Mann ist, der schlechte Nachrichten allzu schonend überbringt. Er hat zu diesem Zweck einen Autor aus der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgetan, der eigentlich bereits auf solide Weise tot und vergessen war, obwohl - oder gerade weil - er zu seinen besten Zeiten mehr als 150 vielgespielte Theaterstücke fabrizierte.
Eugene Labiches »Das Weiße vom Ei« kommt nun aus Basel zu den Autorentagen ans Deutsche Theater nach Berlin. Das Theatertreffen hat für derartige absurde Unternehmungen immer einen Herbert Fritsch im Ärmel, durchaus ein Tr(i)umph, wenn es darum geht, aus Nichts etwas zu machen. Und nun also Christoph Marthaler, der nicht zuletzt durch seine notorische Abwesenheit in dieser Stadt legendär gewordene Regisseur. Ein Schweiz-Import, gefertigt in den Anfangszeiten von Castorfs Volksbühne. »Murxx den Europäer« war dort eine Ikone der Entschleunigung im übereiligen Nachwendeberlin, ein ewig junger Spielplan-Methusalem. »Pariser Leben« kam schon von unterwegs und zuletzt sah man ihn hier mit einem hinreißenden Stück über eine Polarstation, von dem vor allem in Erinnerung blieb, dass es ewig lange dauert, sich erst an- und dann wieder auszuziehen. Bei den Temperaturunterschieden zwischen Drinnen und Draußen! Großartig, wie unbeirrbar da einer nicht auf den Zuschauer setzt. Das war auf unheitere Weise lustig.
»Das Weiße vom Ei« ist, wie der Titel schon sagt, nicht ganz das Gelbe vom Ei, aber immerhin dicht dran. Ein Notstandsbericht von den Höhen des Status-Bankrotts, der sich, mit lauter Hilfskonstruktionen bewaffnend, immer noch die Illusion leistet, eigentlich eine glanzvolle Sache zu sein. Mit anderen Worten: eine Soap, und deren wichtigstes Utensil ist immer die Fernbedienung. Wenn die nicht vorhanden ist, kann man sich auch mit der Sprengung des örtlichen Elektrizitätswerks behelfen. Viel Sinn ist da nicht zu erwarten, aber purer Unsinn ist es auch nicht. Irgend etwas dazwischen. Es scheint hoffnungslos - und darum auch wieder Platz schaffend für neue Aufbrüche in neue Illusionen.
Kein Wort ohne Missverständnis, keine Handlung ohne Handlungshemmung, kein Handgriff ohne Havarie. Und so stehen sie dann am Anfang alle in einer Reihe vor dem Vorhang und versuchen, ihre Rollen in diesem Spiel zu sortieren. Ich bin der Doktor - äh, nein die Tochter. Bin ich das Haustier des Ozeans, oder verhält es sich genau umgekehrt? Es gibt immer zu viele Möglichkeiten, nicht nur an der Käsetheke. Leben kann schwer sein, besonders auf der Bühne in einem Stück des wohlvergessenen Labiche, besonders bei Christoph Marthaler, für den Hintersinn gleichbedeutend mit Hinterhalt ist.
Doch welch Präzision inmitten der multiplen Amnesie, zumal im Bühnenbild - repräsentativ zugerümpelt - von Anna Viebrock. Müssen wir die Handlung etwa erzählen? Ja, aber nur in Ansätzen und so, dass es keiner versteht: Emmeline liebt Frederic. Wie es in Flauberts »Madame Bovary« heißt: »Sie war die Geliebte aller Romane.« Oder besser: Groschenhefte. Jedenfalls lauter abgeleitete Existenzen, Kopien, die sich für Originale halten. Hinreißend, wie Carina Braunschmidt eine kryptoidealistische Verliebtheit zelebriert, die nach Sammeltasse mit Sprung aussieht. Und das Objekt ihrer von Plüschvorhängen umschatteten Begierde? Raphael Clamer zeigt uns einen reichlich verspannten jungen Mann, der an Thomas Manns »verwesten Säugling« in seiner viel zu wenig bekannten Erzählung »Tristan« denken lässt. Eine Art verhinderter Lustmörder, der jetzt in Steuererklärungen macht. Beste Gesellschaft also, zumal der ominöse Onkel Robert (Graham F. Valentine) hier die Fäden zieht, was heißt, er trägt lauter ausgestopfte Tiere herbei, deren dramaturgische Funktion hier zu erklären, selbst dann, wenn sie bekannt wäre, biedermeierliche Ausmaße annähme.
Marthalers Regie gelingt das Kunststück, uns das unaufhebbar Prekäre einer über ihr Verfallsdatum hinaus genossenen Existenzform wie Mottenpulver in die Teetasse zu streuen. Da kommt dann gleich auf psychedelische Weise Leben ins Museum. Das ist vielleicht kein großes Theater, aber eben auf großartige Weise klein. So klein, dass man gelegentlich zurückspulen muss (die deutschen Untertitel laufen mit, wenn französisch gesprochen wird), um es sich wie unter der Lupe noch einmal anzuschauen.
Das bürgerliche Leben: ein nur noch schlecht laufendes Videoband mit Lücken. Da ist etwa Friedelind (Catriona Guggenbühl), die in einer »Seitenbemerkung stecken geblieben ist«, wie es heißt und nun wie ein in Ungnade gefallenes Mitglied des Stalinschen Politibüros vor der Fotoretusche in der Szene herumsteht. Charlotte Clamens, Marc Bodnar, Nikola Weisse und Ueli Jäggi tun ihr übriges bei diesem hochpräzisen Blick in die Apparate spätbürgerlicher Reproduktion. Und am Ende knipst jemand das Licht aus. Was leicht aussieht, aber voraussetzt, dass man weiß, wo der Schalter ist.
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