Die Kunst, zu zweit zu leben

»Christa und Gerhard Wolf« - eine Doppelbiografie von Sonja Hilzinger

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

In ihrer Erzählung »Was bleibt« hat Christa Wolf, die im Jahre 2011 starb, genau das benannt, was jedem Menschen am Ende bewusst werden möge: »Dass es kein Unglück gibt, außer dem, nicht zu leben. Und keine Verzweiflung außer der, nicht gelebt zu haben.« Zu leben - das ist Selbst-Aufgabe, die sich davor hüten möge, zur Selbstaufgabe zu werden. Und aufgibt sich, wer nur das Selbst sieht. Der ungebremst Selbstbezügliche gibt auf, was schönstes Geschenk und schwierigste Arbeit zugleich ist: Nähe zu einem anderen Menschen.

Die Schriftstellerin Christa Wolf, der Essayist und Lektor Gerhard Wolf - mit Sonja Hilzingers Buch wird erstmals die Geschichte dieser Beziehung, dieser Ehe, dieser schöpferischen Zweisamkeit erzählt. Eine Existenz mittendrin in gesellschaftlichen Umbrüchen, Aufbrüchen, Zusammenbrüchen - Partnerschaft und Familie vor allem jedoch als Schutzraum, in dem Kräfte gesammelt und aufgebaut, aber immer auch geschont werden.

Es gibt viele Arten, eine Biografie zu schreiben. Jede Materialformung folgt den unabänderlichen Neigungen eines Autors zu Fabulierkunst und Sprache. Stil ist Natur, der man nicht entkommt. Es gibt beim Schreiben den Zugriff und die Zurückhaltung, die Erzählung und die Forschungsarbeit - ein Buch kann aus Lebendigstem ein Erkenntnispapier filtern oder mitten in einer Tatsachenfülle doch ein Roman sein. Sonja Hilzingers Buch ist ein sorglich recherchiertes, dokumentarisch inspiriertes Buch. Redlichkeit der Sicht und Präzision des Faktischen vereinen sich zu bester wissenschaftlicher Literatur. Wenn das Analysieren eine Seele haben kann - dieses Buch hat sie. Die Sprödigkeit des Ausdrucks mag zunächst irritieren, sie ist nicht auf Eruption und Emotionalität aus - letztlich kräftigt dieser sachliche Ton jene Grundvorsicht Hilzingers, die aus hohem Respekt vor den Porträtierten erwächst: nur nicht zu viel schillern, nur nicht zu viel Selbstbespiegelung, nur nicht der Gefahr erliegen, sich über die Hauptpersonen zu stellen. Kurzum, das Buch ist weit besser als einige seiner Sätze: »Sie erlebten miteinander und aneinander, welche Veränderungen diese neuen Erfahrungen und Erkenntnisse in ihnen auslösten und vergewisserten sich ihrer im fortwährenden Dialog. Die Offenheit und das Vertrauen, das mit dem gemeinsamen Leben wuchs, blieb Grundlage ihrer Beziehung.« Eine junge Liebe - im Kommuniqué.

Fotos illustrieren. Das obligate Beigabenschicksal. Hier aber wird das abgebildete Private zur (be)rührenden Parallelgeschichte. 1950: Da sitzen zwei auf einer Geländerstange hoch überm Thüringischen - er wirkt beschützend, und sie lächelt, wie es nur Beschützte gern tun. Oder aber Beschützte, die das Beschütztwerden genießen und doch irgendwie (hauchartig, andeutungszart) mitteilen, dass sie gleichzeitig auch Beschützer des Beschützers sind. Wolf & Wolf: immer ein wahrhaft liebliches Doppel geradezu sportivster Abgestimmtheit - von Geben und Nehmen, von Vordergrund und Hintergrund, von Präsenz und Scheu. Ein anderes Foto: sie am Schreibtisch, er sitzend davor auf einem Sessel: Autorin und Kritiker, Schöpferin und Berater, sie ge-spannt, er fast provokativ ent-spannt - ein unsichtbarer Beziehungsbogen zwischen beiden, dies schafft nur eine Hingabe, die sich auf jeder Seite als Aufgabe feiert, die Aufgabe nämlich, Egoismen an eine schöne Austausch- und Friedenskultur zu binden.

Einmal die Wolfs auf einem Wolgaschiff, auf dem langen Gang zwischen Reling und Schiffsräumen. Totale Einsamkeit. Die Wolga wie ein Meer. Zwei blicken auf dieses Meer, zwischen sich wohl eine Flasche Mineralwasser. Er, so scheint’s, blickt ein Quäntchen munterer, aufgelegter als sie - vielleicht blickte Gerhard Wolf immer ein Quäntchen glücklicher, aufmunternder, wissender, beruhigender, großmütiger; er war der kühlere, verzweiflungsresistentere und distanzierungsfähigere Geist; er wusste, dass dies seiner Liebe schönster Auftrag war: Kraft und Gegenkraft zugleich zu sein. Ein Ermunterer. Es gibt Ermunterungen, die müssen, in Maßen, immer auch den Mut zur Ernüchterung schüren. Herrliches Foto auf Seite 179: Sie diskutiert, schwarzhaarig schön, er sitzt daneben, seine Frau beseelt anschauend, es ist wegen Christa ein glückliches Gerhard-Gesicht, ein Mensch in vollster Freude, Mann seiner Frau zu sein - auch diese Größe hatte er. Und ein Foto von 1975 im Datschen-Ort Neu-Meteln zeigt beide in schwarzschattiger Türfassung: Sie sommerlich, hell und heischend mit keckem Blick, er daneben, ernst beobachtend - als sähe er Christa in Gefahr, wenn sie irgendeiner Öffentlichkeit gegenüber eine zu große vertrauensselige Gewogenheit wagte.

Hilzinger, Herausgeberin der zwölfbändigen Christa-Wolf-Werkausgabe bei Luchterhand, hat in sechs Kapiteln, chronologisch geordnet nach biografischen Stationen (Bad Frankenhausen, Landsberg an der Warthe, Jena, Leipzig, Berlin, Halle, Kleinmachnow, wieder Berlin), Leben und Werk beider Wolfs beeindruckend genau aufgeschrieben. Dem Wort vom Standardwerk haftet etwas Dröges an, aber das Leben zweier Künstler nebeneinander, die Kunst zweier Leben füreinander, hat hier zur Gestalt gefunden, die mit der Geschichte eines Ehepaares zugleich die wechselvolle, konfliktschwere Geschichte der DDR erzählt. Ihre Kulturpolitik und die Kultur ihrer Politik. Zeit-Geschichte nah an jenen Gemütsstellen, wo die Energien des Gesellschaftlichen den Einzelnen befeuern oder verebben. Wo also Lust sitzt oder aber Leiden entsteht.

Das Schicksal der Jahre: so viel Erwartung und dann so viel mehr Ermüdung und Zermürbtsein. Wo Gerhard Wolf Loslösung lebte (»findig« nennt ihn Hilzinger), da hoffte Christa Wolf noch immer auf Lösung. Sie war nicht findig, sie war leicht erschütterbar. Man sah es schon an ihren schönen, schwermutsdunklen Augen - wogegen seine sich mitunter rund erfrechten, als sprängen da Knöpfe ab von zu enger Kostümerie. Von einer »synchronen Bewältigungsstrategie« schreibt die Autorin: Beide suchen, jeder für sich und doch gemeinsam, Wege für einen befreiten Geist inmitten der geistigen Verengungen.

Einmal, im Flüchtlingstreck zu Kriegsende, hatte die fünfzehnjährige Christa einen erfrorenen Säugling im Arm, im Entsetzensschrei der Mutter bricht das Mädchen zusammen. »Das war«, so Sonja Hilzinger, »wahrscheinlich die erste Manifestation jenes Zusammenhangs von seelischer Überforderung und starker körperlicher Reaktion, von Konflikt und Krankheit«, der Christa Wolf ein Leben lang prägte und große Literatur wurde. Literatur, der im Erleben von Frieden und neuer Zeit und sozialistischer Verheißung eine Entschiedenheit eingeschrieben war: »Soll den Mund verziehen, wer will: Einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben.« (»Nachdenken über Christa T.«)

Wann ist das, die rechte Zeit? Und wer darf sie so nennen? Und wie lang darf man überhaupt annehmen, es sei die rechte Zeit? Was wird aus dem Leben, wenn dies »Einmal«, da man tief und hochfreudig glaubte, vorüber ist? Wenn das Unmögliche eine Erinnerung ist und das nur immer gerade Mögliche jeden Zukunftsgedanken herunterzieht auf die Ebene des erfahrungsgebeugten Ganges? Zwei Biografien - und ein Buch all der Fragen, die einer Existenz den Sinn und den Halt geben. Und am Ende, auch in den Verzweiflungen: das Glücksgefühl, gelebt zu haben. So wunderbar gemeinsam.

Sonja Hilzinger: Christa und Gerhard Wolf. Gemeinsam gelebte Zeit. Verlag für Berlin-Brandenburg. 296 S., geb. 19,99 €.

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