Dies Grün in der Biographie

An diesem Samstag wird der Dichter Wulf Kirsten 80

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein gutes Gedicht bleibt bei sich. Während die Welt vorüberrast. Leser eines Gedichts sind keine Vorpreschende. Sind eher Rückkehrende - aus so unsäglich viel Gerede, das uns allstündlich anbellt. Sind Ankommende im Vielsagenden - das mehr ist als das Ausführliche. Lesen wie Schreiben: eine Heimkehr in den »Satzanfang«, wie der erste Lyrikband Wulf Kirstens im Jahre 1970 hieß. Seine Verse sind Raum-Gedichte. Denn dieser Dichter ist einer, der sich umsieht. In provinziellen Räumen, wo sich die Verlustanzeigen stauen - dem Gedächtnis der Zeit eingeschrieben in der Sprache der Dörfler. Eine Sprache, deren Wortmaterial auf Feldern wächst, an Wegrändern, im Scheunenstaub, »im mittagsschlaf des dorfes«. Dichter sind der Reichtum des Randes.

Kirsten sang eine lohende Hymne aufs »regenperlengefunkel«. Schrieb auf Ettersberg-Wanderwegen den alten Wörtern »trübetimpelig« und »bedript« ein kleines Laut(denk)mal. Er sah in verfehlten Wetterprognosen einen schönen Sieg der Elemente, die »blankweg verwerfen, was ihnen zugedacht«. Frühe Rede ging in dieser Lyrik von »schneidkluppe« und »schieferzwiebel«, von »schaftheu« und »mühlrechen« - kein Wunder, dass Kirsten eines Tages Mitarbeiter beim »Wörterbuch der obersächsischen Mundarten« wurde.

Der Diener

diener bin ich gewesen, immer zu diensten,
was mir auch abverlangt wurde
vom generalsekretär, der sich vorauseilend
bereits angelangt wähnte im sozialismus,
privilegiert dank kaderschutz,
als dann vom tatterich geplagt
mein herr und staatenlenker
keinen hasen mehr traf, von denen
er so viele zur strecke gebracht,
mußte meine schulter herhalten,
wehe, wehe, sie wagte zu zucken,
die ohren freilich ertaubten
von der ballerei aus nächster nähe,
feldhasen, wo seid ihr abgeblieben?
untergegangen samt meines gebieters
hakenschlagendem weltreich,
soviel zu mir, jetzt invalid,
wahrhaftiger diener des sozialismus, der,
soweit ich sehen und hören konnte,
vorwiegend auf hasenjagd setzte.


Wulf Kirsten

Dieses poetische Werk nimmt die »werktagsgeduld« der Menschen ernst, all das, was »belebend belanglos« ist; »aus wortfiguren standbilder setzen« will Kirsten, »einer dynastie von feldbestellern/ ohne resonanznamen«. Stakkato und Strophen-Kaskaden - alle Gedichte kleingeschrieben, ein jedes Wort von gleicher Würde und gleich stolzer Knorrigkeit. Alles gleich wichtig. Klein und groß - wer lügt solche Unterschiede? Lauter Realien werden überbordend aufgehäuft, so viel konkrete Welt - und doch ist, was mehr der Wirklichkeit als dem Dichter gehört, am Ende weggelassen. Und verschwindet doch keineswegs.

Kirsten wurde 1934 in Klipphausen bei Meißen geboren. Der Steinmetzsohn war Handelskaufmann, Buchhalter, Bauarbeiter, studierte Pädagogik, arbeitete als Lehrer und Lektor. Seit Jahrzehnten ein Weimaraner. Ein Gedanke von Paul Klee benennt Dichters rettendes, riskantes Los: »Uns trägt kein Volk.« Dichtung freilich trägt. Trägt auf und davon. Trägt Schönheit und Schwermut dicker auf, als es für die übliche Lebenstüchtigkeit erlaubt scheint. Trägt Wunden davon wie Wunder. Dichtung bei diesem Autor, der auch ein regsamer Essayist wurde: Das ist ein Ton, der herbeiholt und zugleich wegrückt. Kelchrand, Horizontlinie, Erdgrund, Hasenfell, Weltordnung, Ulmengesträuch, Glockenturm, Ritterstege. In diesen Gedichten besitzt die Gegend, die gemeint ist, ganz sich selbst. Rundum mögen Veränderung und Abschleifung protzen, und allem Natürlichen mag die Zurichtung auf ein handhabbares Maß widerfahren - in den poetischen Stücken Kirstens triumphiert eine schöne Treue jedes Wortes zum Störrischen, zum Vertrackten, zum Ungelenken. Poesie als Treue zu dem, was in Landschaften (auch der Seele) revoltiert - gegen die Hinrichtung zu Nutzflächen. Das Ungeebnete, Nachzüglerische, Ausgediente steht da wie eine Familie aus Findlingen - und widersteht. So lebt der Dichter, wach und weh sinnend, zwischen Stadt und Land, zwischen Natur und Kultur, zwischen Fühlung und Fremdheit.

Seit Jahren sammelt, bewahrt, ediert Kirsten auch (Haringer, van Hoddis, Walter Werner) - er hat auf über tausend Seiten Gedichte in deutscher Sprache von 1880 bis 1945 herausgegeben (»Beständig ist das leicht Verletzliche«). Ein Meisterwerk des Erbens. Ein eindringliches, ergreifend kompaktes Bild von Gleichzeitigkeit: Aufschwung ins Geschichtliche, Absturz ins Übersteigerte; berauschtes Leben, zerronnene Liebe; die Wollust des Unglücks und die Scheu des Glücks; der nationale Taumel und die patriotische Gegenwehr. Das sich aufwerfende, quälende, verirrende, vermessene, sich findende, verlierende, das vergehende und sich vergehende Deutschland im lebendigen Ausdruck seiner zerrissenen Poeten. Und der Beweis: Es gibt keine vergessenen Dichter - wir Nichtlesende vergessen, nur immer wir; die Dichter warten, sie haben in ihrem Leben gewartet, der Tod tötet eines Tages alles, aber nicht ihr Warten. Den Dichtern beim Warten Gesellschaft leisten!, schöne verpflichtende Devise jeder wahren Leserschaft.

»Der Bleibaum«, »ich - die erde bei meißen«, »Stimmenschotter«, »Wettersturz«, »fliehende ansicht« - so hießen weitere Gedichtbände von Wulf Kirsten. Ein Häusler, der zum Dichter wurde. Zum Oden-Sänger der Beiseitesteher, der Langsamgeher, der schweigsamen Nachhinker, der in Arbeit Erschöpften. Beeinflusst von Bobrowski, Huchel, Kramer. Kirstens Mensch ist der traumlose Habenichts, der träumerische Taugenichts, »freiweg/ zur ader gelassen, grundanständig,/ wenn auch bodenlos«. Berührend, tieftraurig die Porträtgedichte. Kleist: »welch ein schmerz, die welt in so ungeheurer ordnung/ zu erblicken!« Grabbe: »in trister hinterstube eingespundet.« Johann Christian Günther: »die welt der krämer, in/ der sich alles, alles rechnen muß. halt aus!« Fühmann: »leichter/ wird es nun nicht, ohne ihn/ weiterzuleben, mit dieser gewißheit/ ins unlebbare hinein.« Dem Dichter Kirsten geht das Licht auf just in dem, was großen Geistern auf der Seele brannte: »die poesie ist das blut der freiheit«.

Und sein eigenes Leben? Die Kindheit im Land um Dresden, die Ursprungserlebnisse mit sächsischer Mundart. Die Lernjahre bei Georg Maurer. Das Gedicht beizeiten als »Ich-Setzung« gegen das »kollektive Bewusstsein« in der »stalinomanen Praxis« der DDR. Kirstens sozio-regionale Genauigkeit war nie eine Anbiederung an etwas Volkstümliches, schon gar nicht an den Staat - er selbst (Mitbegründer des »Neuen Forums« in Weimar) sprach von einem »Stillhalteabkommen« mit dem SED-System. Nichts bei ihm von »flügelschlag der Geschichte erdenthoben«, weder angestrengt belehrend noch befehlerisch klassenfroh schlägt er aus allem das vorgeblich Neue heraus, nein, das sperrige Geringe, das banal Vorhandene ist und bleibt ihm der einzig gemäße Stoff. Ein Wanderer mit Bodenblick: alle Wegweiser in unerwartete Richtungen zu drehen und unter Pflanzen, die noch keinen Namen tragen, das erwachsne Gesicht zu vergessen - das ist seine lyrischer Trieb. Er ist ein archäologischer Poet - Lust und Leiden am überwachsenen Grunde der Hauptströme. Schöne Frage: »vielleicht grünt nun wo eine seite/ meiner biographie?«

An diesem Samstag wird dieser bedeutende deutsche Dichter achtzig. Jens-Fietje Dwars gab anlässlich dessen eine Sammlung jüngster Gedichte von Kirsten heraus. Schon im Titel Fristbezogenheit: »was ich noch sagen wollte«. Eine liebevolle Edition des quartus-Verlages. Wie ein Signal, dass die Hermetik kleiner Kreise das letzte Refugium der ungebeugt Anspruchsvollen ist. Gedichte wie eine Nachspur des gesamten Lebenskreises. Dorfansichten. Laubgeräusch. Noch einmal, im Porträt des Dichters Nikolai Kljujew, der Verachtungsspruch gegen den roten Terror, in dem eine Idee ersoff: »als kulakendichter verteufelt, verdammt,/ feindliches element, also verbannt,/ zu tode gebracht, als der tod umging/ millionenfach, verscharrt ortlos/ gleich einem räudigen köter« - auf den Hund gekommen waren da längst andere. »leibliche beschwerung« nennt Kirsten die geliebte Existenz, absehbar wird Schwere ein Ende haben. So, wie lang schon die Illusion ein Ende hat, Schönheit sei »eine figur der wahrheit, daß ich/ nicht lache«. Schön aber, Wulf Kirsten, dass Sie darüber so schöne Gedichte schreiben können.

Soeben erschienen: Wulf Kirsten: was ich noch sagen wollte. Neue Gedichte. quartus Verlag Bucha. Mit Radierungen von Susanne Theumer. Gestaltet von Jens-Fietje Dwars. 44 S., 12, 90 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal