Aufklärer und demokratischer Sozialist

Zum Tod des Politikwissenschaftlers Iring Fetscher

  • Rudolf Walther
  • Lesedauer: 4 Min.

Iring Fetscher war in erster Linie Forscher und Lehrer. Er beriet jedoch auch Politiker wie Willy Brandt und Helmuth Schmidt und gehörte der SPD-Grundwertekommission an - SPD-Mitglied war er seit 1946, gelegentlich mit argen Bauchschmerzen. Fetscher erkannte früh die Bedeutung von ökologischen Fragen. Im Sammelband »Überlebensbedingungen der Menschheit« (1980) entzauberte er die kapitalistische Fortschritts- und Wachstumsideologie theoretisch und politisch. Für sein wissenschaftliches Wirken wie für sein politisches Engagement als Citoyen wurde Fetscher mehrfach geehrt: u.a. mit der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt (1992), mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1993) und mit dem Hessischen Verdienstorden (2003).

Der Aufklärer und demokratische Sozialist Iring Fetscher hat die BRD mitgeprägt wie wenige andere Intellektuelle. Vor zwei Jahren sagte der damals 90-jährige Politikwissenschaftler am Rande der Beerdigung eines 81-jährigen Kollegen: »Die jungen Leute sterben uns weg.« Das war typisch für Fetschers Humor: Mit 81 ist man jung und mit 90 nicht alt - auf jeden Fall nicht so alt, dass man nicht mehr selber Auto fahren könnte. Fetscher verabschiedete sich, stieg ein und fuhr weg. Am Samstag ist er in Frankfurt am Main verstorben.

Iring Fetscher wurde am 4.März 1922 in Marbach am Neckar geboren und wuchs seit seinem zweiten Lebensjahr in Dresden auf, wo sein Vater bis zu seiner Entlassung durch die Nazis am Hygienischen Institut arbeitete. In seiner Autobiografie von 1995 (»Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu verstehen«) beschrieb sich Iring Fetscher in seinen Kinderjahren als »ängstlichen Außenseiter« und schlechten Schüler. Als 18-Jähriger meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht mit dem festen Wunsch, Offizier zu werden. Er erlebte den Krieg im Osten, im Westen und im Norden und geriet bei Kriegsende für kurze Zeit in britische Gefangenschaft.

Im Herbst 1945 kam Fetscher nach Dresden zurück, wo er erfuhr, dass sein Vater am letzten Kriegstag von einer in den Trümmern Dresdens herumirrenden SS-Streife erschossen worden war. Der Schock verstärkte seine Religiosität. Die Sinnsuche endete mit der Konversion zum Katholizismus. Er studierte aber beim Kulturprotestanten Eduard Spranger in Tübingen. Entscheidend für sein Dissertationsthema (»Hegels Lehre vom Menschen« 1950) wurde seine Begegnung mit dem legendären Hegel-Interpreten Alexandre Kojève 1948 in Paris. Nach der Promotion arbeitete Fetscher als Lehrbeauftragter an den Universitäten Tübingen (bis 1956) und Stuttgart (1957-59).

1959 habilitierte er sich mit seiner Arbeit über »Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs«. Das Buch ist bis heute ein Standardwerk der Rousseau-Literatur geblieben. 1963 wurde Fetscher als Politikwissenschaftler auf einen Lehrstuhl in Frankfurt am Main berufen, den er bis zur Emeritierung 1987 behielt.

Schon Mitte der 1950er Jahre beschäftigte sich Fetscher mit Marx und dem Marxismus und trug damit dazu bei, die Diskussion über Marx’ Theorie, die bis dahin nur aus ideologischen Schützengräben und antikommunistischen Festungen heraus geführt worden war, auf ein wissenschaftliches Niveau zu heben. Fetscher gehörte zu den Herausgebern und Autoren der seit 1954 erscheinenden »Marxismusstudien«. In seinem mehrfach wieder aufgelegten Sammelband »Karl Marx und der Marxismus« präsentierte er seine Aufsätze aus den »Marxismusstudien«. Viele dieser Aufsätze sind auch in andere Sprachen übersetzt worden, weil sie einen unverstellten Blick auf Marx’ Theorie ermöglichten und den fundamentalen Widerspruch zwischen »marxistischer Theorie und sowjetischer Praxis« (Fetscher) ins Zentrum stellten. Bereits in seiner Antrittsvorlesung in Tübingen widmete sich Fetscher dem Thema »Marxismus und Bürokratie« (1959). Er zeigte darin, dass »Marx und Engels leidenschaftliche Gegner der Bürokratie« waren und dass die bürokratische Inszenierung unter den Etiketten »realexistierender Sozialismus« oder »Marxismus-Leninismus« vor allem dazu diente, einer autoritär herrschenden Oligarchie den Weg zu ebnen.

Fetschers Buch »Von Marx zur Sowjetideologie« (1956) erlebte bis heute über zwanzig Auflagen und wurde ebenso zum Klassiker wie die dreibändige Anthologie »Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten« (1963-68), die abgelegene Texte sozialistischer Theoretiker und Politiker wieder zugänglich machte. Neben wissenschaftlichen Arbeiten verfasste Fetscher auch launige Bücher wie »Wer hat Dornröschen wachgeküsst? Das Märchenverwirrbuch« (1974) und »Der Nulltarif der Wichtelmänner« (1982) - eine sprach- und ideologiekritische Universitätssatire. Beide Bücher wurden Bestseller.

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