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Psychologen: Altersbilder wirken stärker auf die Gesundheit als diese das Alter beeinflussen

  • Henriette Palm
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie leistungsfähig ein Mensch im Alter ist, hängt von individuellen Voraussetzungen ebenso ab wie von gesellschaftlicher Realität. Psychologen werben für ein positives, aber realistisches Altersbild.

Die Wissenschaft hat seit langem Indizien und Beweise dafür, dass physische und psychische Gesundheit für die meisten Menschen bis zum 75. Lebensjahr, und für viele auch danach erhalten werden können. Auch die Arbeitsleistung weist viel weniger Defizite auf als in der Vergangenheit behauptet. So spricht der Altenbericht der Bundesregierung davon, dass die berufliche Leistungsfähigkeit sich »aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher nicht-kalendarischer Faktoren ergibt, sondern sich erhalten, fördern oder sogar verbessern« lässt. In der Gesellschaft halten sich stereotype Altersbilder länger oder werden sogar absichtlich aufrechterhalten, wenn z.B. - wie in den 80er Jahren hohe Arbeitslosigkeit herrscht und deshalb das Altersbild der arbeitsmarktpolitischen Nutzlosigkeit propagiert wurde.

Davon sind wir heute unter dem Eindruck eines zunehmenden Fachkräftemangels und angesichts des demografischen Wandels weit entfernt. Dr. Verena Klussmann, die dazu an der Berliner Charité und an der Uni Konstanz geforscht hat, warnt jedoch davor, jetzt ins andere Extrem zu verfallen und nun plötzlich auch tatsächliche Einschränkungen wegzudiskutieren. »Wir brauchen ein möglichst positives, aber differenziertes Altersbild.« Sie weist zudem darauf hin, dass es neben dem gesellschaftlichen auch ein mindestens genauso wichtiges individuelles Altersbild gibt. Inwieweit Menschen sich jedoch in ihrem individuellen Altersbild von dem gesellschaftlich jahrzehntelang geprägten emanzipieren können, hänge von konkreten eigenen Erfahrungen, dem kulturellen Hintergrund und vom Kontakt zu anderen Generationen über die gesamte Lebensspanne ab. Auch Bildung spiele eine Rolle

Negative Altersbilder können zu einer Diskriminierung von Älteren durch Jüngere führen, sie können aber auch schlimme Folgen für das eigene Selbstvertrauen und die Handlungsmöglichkeiten im Alter haben. Im ungünstigsten Fall, so Klussmann, wird ein negatives Altersbild zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Ich werde jetzt alt, da kann ich nicht mehr so viel laufen, ich muss mich nicht mehr soviel bewegen, es kommen die Krankheiten, dagegen ist man nicht gefeit. Diese Einstellung beeinflusst - das haben Klussmanns Studien gezeigt - das eigene Gesundheitsverhalten massiv und kann krank machen. Wer Alter mit Defiziten, Gebrechlichkeit, Zurückgezogenheit und dem Abbruch des Lernens verbindet, arbeitet weniger am Erhalt seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, stellt sich neuen z. B. technischen Herausforderungen nicht mehr und verliert so am Ende tatsächlich körperliche und geistige Fähigkeiten.

Mehrere Studien untersuchten den langfristigen Effekt von Altersstereotypen und konnten zeigen, dass Personen mit negativen Altersbildern Jahre später mit höherer Wahrscheinlichkeit Herzkreislauferkrankungen und schlechte Gedächtnisleistungen aufwiesen. Personen mit positiver Sicht auf das Alter, die über 23 Jahre beobachtet wurden, lebten mehrere Jahre länger als jene mit negativer Sicht. Altersbilder - so zeigte sich - wirken sich stärker auf die Gesundheit aus als umgekehrt der Gesundheitszustand das Altersbild prägt. So gingen Menschen mit positivem Altersbild trotz gesundheitlicher Beschwerden regelmäßig spazieren, während die beschwerdefreie Gruppe mit negativem Altersbild das weniger tat.

Besonders kritisch ist es, wenn Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten und andere Menschen in Pflegeberufen ein negatives Altersbild haben. Gesundheitliche Einbußen und Beschwerden werden unter diesen Umständen fälschlich als normale Begleiterscheinung des höheren Lebensalters angesehen und damit als behandelbare Krankheit weniger ernst genommen. Die Folgen gehen noch weiter: Die geringe Verbreitung und ungleiche regionale Verteilung von Einrichtungen der geriatrischen Versorgung weisen darauf hin, dass in der Gesundheitspolitik einer optimalen Versorgung älterer Menschen keine große Bedeutung beigemessen wird oder Erfolgsaussichten bei Älteren unterschätzt werden. Dazu passen dann auch die Diskussionen darüber, ob kostenintensive medizinische Leistungen sich ab einem bestimmten Lebensalter überhaupt noch lohnen. Verena Klussmanns Ziel ist es, Strategien zu entwickeln, die ein produktives Älterwerden unterstützen. Von der Politik wünscht sie sich perspektivisch mehr niedrigschwellige Angebote zu körperlicher Betätigung für ältere Menschen - wohnortnah und bezahlbar. Sie sollten die Chance des Ein- und Aussteigens bieten, um sich selbst erproben zu können; Jahresverträge seien da weniger günstig. Als Anschub könnten Gutscheine dienen, die die zuständigen Stellen in den Landesregierungen älteren Menschen z. B. in Verbindung mit informativen »Seniorenbriefen« - analog zu »Elternbriefen« - zukommen lassen. Wichtig ist aus ihrer Sicht aber auch die frühe Prägung positiver Altersbilder durch Projekte zur Generationenbegegnung in Schulen, wie sie seit 1998 in Baltimore/USA mit großem Erfolg praktiziert werden. Schüler erlebten alte Menschen in diesen Projekten als kompetent auf vielen Gebieten - vom Lesen über das Lernen und Moderieren bis hin zum Sport.

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