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Heils-Geschichte NSU

Münchner Kammerspiele: »Das schweigende Mädchen« von Elfriede Jelinek

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Freiheit ist das gute Wesen, das alles erlaubt - und das folglich auch jenes Unwesen zulässt, das lieber alles zulässt. Also geschlossen hält. Das spezielle deutsche Unwesen. Die Geschlossenheit der Reihen - auf dass sie zur Grenzmauer werden können; und wer trotzdem durchkommt, riskiert, dass er umkommt. Ist die Republik schon wieder so weit?

NSU heißt eine Antwort. Gerichtlich erforscht werden in München gerade Motive und Machenschaften, die in über zwölf Jahren zu zehn Morden führten. Elfriede Jelinek untersucht nicht Gründe, sie sucht in Untergründen. Nicht das Oberlandesgericht ist ihre Verhandlungsstätte, sondern das Jüngste Gericht. »Das schweigende Mädchen« erhebt den Prozess gegen die bislang stumm bleibende Beate Zschäpe zum bohrenden, drückenden, entrückten, plötzlich auch beißend sarkastischen Konzert der Klage, des Konsterniertseins, des kryptisch krassen Ekels vor deutschblassem Kameradschaftsgeist und -geistern.

An den Münchner Kammerspielen inszenierte Johan Simons. Herausgeleuchtet aus einer bühnentiefen Finsternis drei Musiker, sieben Schauspieler. Piano, Violine, Synthesizer. Die Musik von Carl Oesterhelt: kirchenklangvoll barock und bedrohend dissonant. Die Darsteller sind wie sprechende Sänger. Der Text als Oratorium. Spiel als Liturgie. In der Zwingburg Sparsamkeit aber welch eine Nuancen-Kraft! In der Mitte sitzt der Richter, neben ihm zu beiden Seiten Propheten, Engel, ganz rechts eine Jesusgestalt, weiß, im Büßerkittel. Die drei Engel in schwarzen Kutten, immer wieder ziehen sie sich die Kapuze über den Kopf. Ganz links die zwei Propheten, blaue Röcke, helle Bluse - der kleinbürgerliche Haushalt grüßt; ostdeutsch anmutende Küchengemüter.

Der Abend dauert zwei Stunden, er dauert lang. Er drückt nieder, er regt auf, er fordert, er überfordert, er geht assoziativ weit, ins Unwegsame, er nimmt dich mit, aber er nimmt uns nicht mit, er geht allein, sein Proviant ist schwere Kost, eine Mischung aus faktenreicher Zeitungsprosa, biblischer Geschichte, literarischen Querverweisen. Alles ganz nah, alles ganz weit weg. Jelinek schreibt mit einem beinahe hermetischen Zorn, mit wundweh zerfaserter Kraft gegen mörderische Zustände an, aber sie schreibt auch an gegen die täglich erlebbare Munitionierung des handelsüblichen Politkampf-Vokabulars aller Themenbereiche.

Dieses Wortpatronenhülsen-Lager für Aufklärung und schnelle Verständigung; sämtliche Begriffe bleiben umschwirrt von einer fragwürdigen Sehnsucht der Kommentatoren und Konsumenten nach eindeutiger Festlegbarkeit der Dinge. Festlegbarkeit, die manchem Kopf gut tut. Aber was so gut tut, es lügt immer auch. Jelinek in einem lakonischen Hinwurf: »Die Wahrheit spricht nicht, daher entspricht ihr alles.« Und demzufolge nichts. In Sprache richten wir uns ein - Nachrichten bedeuten Zurichtung für machtausübende Sprachregelungen. Durch die wir oft genug nicht informiert, sondern uniformiert werden. Und dann ziehen wir gläubig mit in den Krieg der Lügner und Lavierer und Losungslemuren, und wir fallen in diesem Krieg - herein. Siehe NSU: allein schon die jahrelange »Dönermord«-Mär.

Die unsichtbar bleibende Schweigende, die dem Stück den Titel gab, »Nazibraut« Zschäpe, wird bei diesem grotesk unwirklichen Gericht als eine »Jungfrau« bezeichnet, die zwei Erlöser gebar. Endlöser. Der Neunazi-Dreck des Terror-Trios und dessen Heil-Landsergeist als - Heilandsgeschichte. Eine höchst verstörende Gleichnis-Ebene für schlimmstniedrigste Realität. So beschwört die Aufführung provokant jene Phantasie, die jedes Entsetzen in eine Metapher verwandeln und jede Verkommenheit in höhere Sphären versetzen kann. Wo das Betrachten und Bedenken dann in archaische, zeitlos sich ausbreitende Gefilde zielt. Unter bewusster Missachtung jener klaren Urteilspflicht, wie sie richtender Justiz und unterrichtendem Journalismus auferlegt bleiben. Aber Kunst darf das Schlimme anders befragen als ein Staatsanwalt. In Kunst befragst du dich selber. Das kann schön sein - aber auch schlimmer als jenes real Schlimme, das als Anlass der Denkspiele dient.

Thomas Schmauser thront mittig als Richter, der Irdischste der allegorischen Gestalten. Ein Brillenglas blind. Die sich spreizende Autoritätspose erinnert ans Pauker-Bübische eines Heinz Rühmann. Mehrere heiter-schmetternde »Guten Morgen!« Die authentische Rhetorik aus dem NSU-Prozess auf die Bühne gehoben, und es offenbart sich eine motorisch-lächerliche Plapperei der Floskeln. Die Engel: Berichtende, Bittertönende, hilflos Weise. Besprechen der Toten. Wiebke Puls von antikisch schöner, dann wie in mütterlichem Schmerz sich windender Statur; Steven Scharf kämpferischer, angriffswilder, sich verschwitzt-grüblerisch durch germanische Mythen fragend - woher kommt das Dunkle in uns, dies Waffengeile, diese Bewegungstollheit in Springerstiefeln? Benny Claessens als dritter Engel (der Engel eher ein Teufel?): Mit grandios schlitzohriger Behäbigkeit, kokett tapsiger Tumbheit und einer abgefeimt schmierigen Einfalt gibt er das ganze Elend der lügenden, stotternden, stümperhaften Untersuchungs- und Verfassungsorgane zu Protokoll. Annette Paulmann und Hans Kremer sind ehrpusselig kleinkariert die (falschen) »Propheten«, deutsche Mörder-Eltern mit psychisch flachster Ausstattung für den Kern der Lage - jede Aussage eine Absage an mögliche Wahr-Sagungen. Und die abendlang so stumme Jesusgestalt am Rande, Risto Kübar? Der schmächtige, am Ende bebend und nervgepeinigt Sprechende. Der Fremde. Das Opfer. In leicht, fast ängstlich gebrochenem Deutsch: Poesie der Verlorenheit, des Flehentlichen, der Bitte um eine Gnade, die in den Mund nehmen zu müssen eine Schande für das gastgebende Deutschland ist.

Jelinek bezeichnet sich im Stück als »Spaziergängerin der Sprache«. Sie balanciert auf Worten, nimmt sie auf neue Weise wörtlich. Sie kriecht in landläufige Bedeutungen hinein und scheucht in ihnen überraschende Assoziationen hoch. Wo etwas aufkommt, muss auch jemand dafür aufkommen; Wege werden eingeschlagen, deren Ziel es ist, Schädel einzuschlagen. Also: Sprachspielfreude auf jeden nur aufspürbaren Hintersinn. Und sei es radikal grob: vom Himmel hüpft sich’s rasch zu Himmler. Jelinek knackt Sprache, durchbricht die Geläufigkeit, mit der wir, oft so fraglos, so bedenkenlos, medial miteinander verkehren. Sie spielt böse mit Begriffen wie etwa dem Klimawandel, der aus der ökologischen Sinn-Enklave ins Politische geholt wird. Windenergie? Mit welcher Energie doch Wind gemacht wird: deutsche Exportkraft, deutsche Tugenden, deutsche Werte, deutsche Einheit. Wir sind wirklich gut in Schuss.

Im Grunde gesteht das Stück eine tiefgreifende Angst vor dem Monströsen der Moderne. Vor diesen ideologischen Verblendungen, den revolutionären wie religiösen Opfermythen, den wahnpolitischen Ergebenheiten. Was die Mörder Mundlos und Böhnhardt hassten und wegräumten und niederschießend geraderücken wollten - es ist als geistiges Treibmittel wahrscheinlich auch woanders in unzähligen Köpfen. Weiß jeder genau, was morgen in ihm geschehen könnte? In einer so hochneurotisch gewordenen, fiebrig keuchenden Kampf- und Kollapsgesellschaft wie der unseren? Alles formt mit an einer Welt zahlloser enttäuschter, verunsicherter, höchst reizbarer Endzuständler. Deren vergifteter Ordnungssinn, der letzter Tatendrang irgendwann, vielleicht, auf eine grausame Initialzündung setzt.

Zu Beginn der Aufführung war der Schauspieler Stefan Hunstein, im Parkett sitzend, hochgeschnellt. Er, einer der Sensibelsten, ja: Sanftesten des Münchner Ensembles, als ein Mensch außer sich - geradezu kochend, explodierend. Er ist der Empörte, der es nicht fassen kann, will: Niemand sah etwas, als einer der NSU-Morde geschah? Sogar ein Verfassungsschützer war im Internetcafé, in dem die tödlichen Schüsse fielen? Die Blutlache nur ein Phantom? Hunstein als der fauchend, fassungslos die schreienden Fragen wahrlich hinausschreiende Bürger - er rast brüllend aus dem Saal, ist noch lange zu hören.

Nach der Vorstellung - die ganz Gefasstheit war, traurige Konzentriertheit und ein zartes melodiöses Schwingen ist - der Schritt auf die Straße. München da noch im Wiesn-Heißfieber. Es wäre plakativ, pubertär, primitiv, den nachklingenden dunklen Trauer- und schrillen Zornton der Aufführung jetzt gegen das prustend bajuwarische Ballermann-Gejohle des Oktoberfestes zu setzen. Und doch bleibt wahr, dass alles Schwatzen und Geschwätz - auf realen Plätzen und medialen Allgemeinplätzen - im Grunde daran erinnert, dass dahinter ein gefährliches, grauenhaftes Schweigen über das Wesentliche, jawohl: herrscht.

Nächste Vorstellung: 19.10.

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