Friedrich Schorlemmer, Theologe

Seine Christlichkeit passt in einen Satz: Es gibt kein eigenes Glück 
ohne das Glück des anderen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Angst. Ein Grundgefühl, Sommer 1989. Lager für Oppositionelle, so war durchgesickert, schnappten schon nach Nahrung. Und Parteisoldaten des Bezirkes Halle verbreiteten das freche Gerücht, dieser Schorlemmer würde das Aufhängen von Kommunisten fordern. »Das wurde sogar in Schulen verbreitet. Da wusste ich, die kitzeln kalt den angeblichen Volkszorn hoch, der doch nur ihr eigener Fanatismus war.« Unter »OV Johannes« hat ihn die Stasi seit Jahren registriert. Der Lieblingsjünger Jesu. Der Aktenname des Sohnes: »Judas«. Der Verräter. So spielt der Zynismus mit seiner Halbbildung. Auf Schulungen der Volkspolizei wird geäußert, es könne doch nicht so schwer sein, das »Problem Schorlemmer« im Straßenverkehr zu lösen.

»Meine Tochter Uta war achtzehn, sie sagte: ›Ich geh jetzt auch weg, egal, was damit verbunden ist.‹« Friedrich Schorlemmer versucht zunächst vergeblich, sein Kind zurückzuhalten. »Ich höre die Worte, als wär’s gestern gewesen: ›Vati, ich will nicht wie du zwanzig und mehr Jahre nur immer warten.‹ Auch diese sehr private Situation trug dazu bei, dass ich entschiedener wurde: Jetzt müssen wir aufs Ganze gehen!«

Schorlemmer und Pfarrer Rainer Eppelmann verabreden im April 1989 in dessen Samariter-Gemeinde-Küche in Berlin, in die organisierte Opposition zu gehen. Sie sind nicht die einzigen im Lande. Vielfalt als Impuls, aber auch als Konflikt: »Ich wusste zum Beispiel nicht, dass es Rivalitäten zwischen Bärbel Bohley und Eppelmann gab.« Gemeinsame Konspiration wird allerorts politische, geistige Konkurrenz. Was Ende September in Lutherstadt Wittenberg noch »Gesprächskreis für junge Erwachsene« heißt (ihn gibt es seit 1979!), soll nun »Demokratischer Aufbruch« werden. Neue Gesichter tauchen auf, das Spektrum der Positionen ist groß. Am 1. Oktober 1989 will sich dieser »Aufbruch« in Berlin gründen. Das klassische Thriller-Ambiente. Von überallher kommen die Begründer. Edelbert Richter aus Weimar aber wird am Verlassen der Stadt gehindert, Heiko Lietz in Güstrow ebenfalls. Andere woanders auch.

Schorlemmer fährt mit dem Rad durch viele Gärten, das Auto steht weit außerhalb von Wittenberg, er schafft es nach Berlin. Dort müssen Telefonzellen helfen: Fortwährend wird der Ort für den Treff geändert. Vor jedem neuen Ort breitbeinig: Polizei. Gründung fehlgeschlagen. Erst am 30. Oktober, in der Berliner Diakonieanstalt »Königin Luise«: die offizielle Geburtsstunde des »Demokratischen Aufbruchs«.

Mitte Dezember findet in Leipzig ein Parteitag statt. Schorlemmer hatte in einem Interview die Unterstützung von Reformen der Modrow-Regierung vorgeschlagen. Thüringer Delegierte giften: Schorlemmer, Komplize der Kommunisten! »Die bugsierten mich in einen Nebenraum, ich saß zwanzig Leuten gegenüber, wie bei der Tscheka. Die hatten Lippen, schmal wie Messer. Ich fühlte plötzlich das Glück, nicht in früheren Zeiten gelebt zu haben - die hätten mich sofort an die Wand gestellt. Auch das Wort ›Sozialismus‹ solle per Beschluss von niemandem mehr gebraucht werden.«

Der linke Flügel animiert Schorlemmer, gegen Wolfgang Schnur als Vorsitzenden zu kandidieren. Der Anwalt, der bald darauf als Stasi-Spitzel auffliegt. »Aber ich war nicht als Pfarrer nach Leipzig gefahren, um als Parteivorsitzender heimzukehren.« Hass, Intrigen, Machtkämpfe - er haut ab, in der Tasche eine Einladung zum Parteitag der SPD im Westberliner ICC. Dieser Partei wird er beitreten.

Am 4. November 1989 war Schorlemmer zum Berliner Alexanderplatz gegangen. Über »Solidarität und Toleranz« würde er sprechen auf der großen Demonstration. Auch Volker Braun sollte dort Redner für Meinungs- und Pressefreiheit sein, er schreibt in sein Werktagebuch: »das schien mir ein zu schmaler ansatz. auch störte mich, dass mehrere organisationen, glaub ich, bei der FIRMA sind. an dem ventil musste ich nicht drehen.« Und der Filmregisseur Andreas Dresen später: »Die dort begeisternd demonstrierten, das waren nicht die eigentlich Mutigen. Da liefen ja sogar Leute mit, die bisher an der Knebelung der Pressefreiheit mitgewirkt hatten, und sei es in hinterster Reihe. Mutig waren jene, die sich als Erste ungeschützt auf die Straße gewagt hatten, und denen von der Stasi die selbstgemachten Transparente aus den Händen gerissen wurden.«

Schorlemmer kommt aus just dieser Erfahrung. Ein unabhängiger Friedensbewegter seit Jahren. Frieden, da denkt Schorlemmer an seinen Vater kurz vor Moskau - toten Kameraden sägte man die vereisten Beine ab, weil jedes aufgetaute Paar Stiefel Aufschub brachte gegen den eigenen Kältetod. »Frieden 83« hatte die Initiative geheißen, die sein Leben bestimmen sollte: friedfertig sein, aber Frieden auch schaffen. Arbeit an sich selbst und kritische Arbeit an den Verhältnissen. Frieden als Seelenzustand - und als politische Aktivität. Er hat zwischen Spitzeln gelebt, als gebe es keine; er hat sich in der Enge der DDR bewegt, als sei sie Weite. Er vertraut. »Lieber täusche ich mich in einem Menschen, als dass ich ihn verdächtige.« Ihn erhebt dieser 4. November. Endlich Öffentlichkeit. Hohe Kultur der Fried-Fertigkeit: Nichts ist fertig, alles beginnt. Weltsekunde eines großen politischen Volks-Theaters. Am Morgen dieses Herbsttages geht er also zum Alex, schreibt beseelt die Losungen des Volkswitzes in sein kleines Notizbuch - dessen Umschlag verräterisch rot ist. Er wird angeraunzt. Rotes Buch - roter Büttel. Bis ihn Leute erkennen. Ja, er! »Schwerter zu Pflugscharen!« 1983 im Lutherhof der Wittenberger Schlosskirche.

Den 9. November 1989, den Mauerfall, wird er einen »deutschen Staatsstreich« nennen. Aufbruch in eine neue DDR? Er bekennt Enttäuschung. »Es hat gedauert, bis ich endlich einsah, dass die Zahl der angepassten Lügner nicht nur groß war, sondern dass es wohl mehr als zwei Drittel meiner Mitbürger waren, die nun ihr wahres Gesicht zeigten.« Gern hätte er deren Wut und Aufbegehren erfahren, »als wir allein standen, noch im Sommer 1989, als sie zu der drohend schweigenden Mehrheit gehörten, Nischenbewohner, die ihr Eckchen schon für eine Gegenwelt hielten«.

Wende? Wieso eigentlich? Er ist, er bleibt, wie er war. Setzte sich immer, weil er sie begradigen wollte, Fronten aus. Führte Jugendliche an den kritischen Geist des jungen Marx heran - und wurde von christlichen Eltern als SED-Mann beäugt. Predigte die Wehrdienstverweigerung - und musste sich von Vätern und Müttern anhören, er gefährde die Berufswege der Söhne. Fordert nun, mit der Wende, konsequent »Versöhnung in der Wahrheit«, verurteilt also Schießbefehlsgehorsam, Stasiismus, Mauer und SED-Regime, will aber doch einsichtigen Tätern eine Chance lassen. Er wird den Stasiakten ein »Freudenfeuer« wünschen und muss sich als Mielke-Kombattant beschimpfen lassen. Prägt dann das Wort von den »Bürgerrächern«. Bleibt der Wundbohrer aus Menschenliebe, und Menschenliebe muss den Verhältnissen offenbar immer und überall abgetrotzt werden. Ein Unermüdlicher, der das Wort ergreift, als wären Worte Sterne, die man pflücken und neu an einen Himmel ganz aus hohem Sinn stecken kann. Wo andere schwarz sehen, will er Gestirn entdecken. Die hohe Stirn, die nichts flieht, was Aufklärung fordert. Aufklärung als Selbstforschung, nicht als Erziehung anderer. Seelsorge, das heißt auch: Um die eigene Seele muss er sich meist selber sorgen. Schicksal der Kummerkästen. »Klar sehen und doch hoffen«, so nennt er 2013 seine politischen Erinnerungen - da verschoben sich zweifelsfrei Akzente. Hoffnung klingt inzwischen wie Trotz. Denn auch Kraft kommt ins Alter. Aber er redet vom Glauben nach wie vor so, dass der Atheist zu ahnen beginnt: Unglaube ist nicht Vernunft, sondern Strafe.

Er wird 1990 SPD-Fraktionsvorsitzender im Wittenberger Stadtparlament, Parteimitglied ist er noch immer, »illusionslos«. Ins große Staats- und Parteiengeschäft? Nein. »Ich war nie ein in der Kirche geparkter Politiker.« Kein Gespür für Lobbyismus. Furcht vor Charakterverbiegung. Keine Lust an einem Geschäft, bei dem die Unempfindlichkeit für ein Problem schon als dessen Lösung bezeichnet wird. Ein Basismensch noch oben auf der Kanzel. Protest blieb ihm unbeirrbar auch Pro-Test. Blieb also Test, Gegenkräfte in einem gemeinsamen Für zu vereinen. Seine Christlichkeit passt in einen Satz: Es gibt kein eigenes Glück ohne das Glück des anderen. Sagen das nicht auch die Marxisten? »Sie haben keinen freien, gelösten Zugang zum Unbegreiflichen des Menschen. Niemand weiß am Ende, was wirklich trägt. Den Gedanken erträgt eine Bewusstseinsmaschinerie nicht.«

Das schönste Erlebnis der Wende? Etwa eine Woche nach dem Fall der Mauer klingelt es an der Wittenberger Wohnungstür. Ein Kohlefahrer, betriebsbedingt beschmutzt, drückt dem Pfarrer eine Klappkarte in die Hand, verabschiedet sich wieder. Auf der Karte steht: »Unser Dank gilt denjenigen, die uns geholfen haben, unsere Sprache wiederzufinden. VEB Kohlehandel Wittenberg, Brigade Einzelhandel, 17. November 1989.«

Literatur:

Friedrich Schorlemmer. Zorn und Zuwendung
Doppelt leben. Nachdenken über Vorlieben
Was bleiben wird - Ein Gespräch über Herkunft und Zukunft

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