Marktplatz statt Arztpraxis

IGeL-Monitor der gesetzlichen Krankenkassen will Versicherte vor unnützen Individuellen Gesundheitsleistungen bewahren

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit drei Jahren bewertet der IGeL- Monitor im Auftrag der Krankenkassen Selbstzahlerleistungen, die Ärzte ihren Patienten anbieten. Die gestern in Berlin vorgestellte Bilanz ist nicht positiv.

Die Augenärztin im Ärztehaus an der Prenzlauer Allee in Berlin wirft ihrer Patientin vor, ihre Gesundheit zu gefährden, wenn sie nicht regelmäßig die Glaukomvorsorge durchführen lässt - diese wird als Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt. »Wenn ich Patienten wie Sie sehe«, lässt sich die Medizinerin schließlich hinreißen, »kriege ich so einen Hals«, und macht die entsprechende Geste. Damit ist sie die Patientin los.

Mehrere Hundert solcher individuell zu bezahlenden Leistungen werden Patienten in den Arztpraxen angeboten. 37 hat der vor drei Jahren vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung eingerichtete IGeL-Monitor bewertet, indem er sämtliche Studien dazu auswertete. Nicht einmal fiel das Fazit positiv aus, lediglich vier Mal lautete die Beurteilung »tendenziell positiv« - so für die Stoßwellentherapie bei Fersenschmerzen, die es aufgrund dieser Bewertung demnächst in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen schaffen könnte. Dann stünde sie allen Versicherten zur Verfügung und müsste nicht mehr individuell bezahlt werden. »Der überwiegende Teil der IGeL hat keinen nachweisbaren Nutzen für den Patienten oder sie schaden«, bilanziert Dr. Peter Pick vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Er hätte sich gewünscht, dass Ärzte eine Bedenkzeit zwischen dem Angebot einer IGeL und der Annahme durch ihre Patienten einräumen und diese Leistungen getrennt von Kassenleistungen angeboten werden müssen. So aber sei die Arztpraxis zum Marktplatz geworden, auf dem die Gesetze von Angebot und Nachfrage herrschten. IGeL haben mittlerweile ein Umsatzvolumen von rund 1,3 Milliarden Euro erreicht. Und sie binden Kapazitäten in den Arztpraxen - Kapazitäten, die in der Regelbehandlung fehlen, meint Gesundheitsexpertin Birgit Wöllert von der Linksfraktion im Bundestag. Die Reduktion von unnützen und schädlichen IGeL würde folglich schnellere Termine für Patienten ermöglichen.

Schlecht bewertet wird neben der Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke oder dem Spritzen von Hyaluronsäure bei Kniegelenksarthrose die Glaukomvorsorge. Bei dieser Erkrankung des Auges, die auch als Grüner Star bekannt ist, schädigt hoher Augeninnendruck den Sehnerv und das Sehvermögen wird stetig schlechter. Sogar eine Erblindung kann die Folge sein. Symptome werden allerdings von betroffenen Patienten oft erst wahrgenommen, wenn die Nervschädigung schon weit fortgeschritten und irreversibel ist. Außerdem kann das Glaukom auch bei Patienten ohne erhöhten Augeninnendruck entstehen. Das macht eine durchaus wünschenswerte Früherkennung dieser Erkrankung schwierig. Augenärzte bieten ihren Patienten als IGeL eine Kombination zweier Untersuchungen an: die Augenspiegelung (Ophtalmoskopie) und eine Messung des Augeninnendrucks (Tonometrie). Da es keine Belege dafür gibt, dass diese beiden Maßnahmen Sehbeeinträchtigungen verhindern, aber damit zu rechnen ist, dass Patienten fälschlicherweise als krank eingestuft werden, stufen die Experten des IGeL-Monitors die Glaukom-Früherkennung als »tendenziell negativ« ein. Augenarztverbände empfehlen sie dagegen, genau wie die Berliner Augenärztin, die ihre Patientin beschimpfte. Solche gegensätzlichen Positionen dürften nicht hilfreich für Patienten sein. Welche Informationsquellen sollten sie noch finden - vorausgesetzt, sie wollten Genaueres wissen?

Das wollen allerdings nur wenige Patienten. Bei einer Umfrage der Techniker Krankenkasse erklärten vier von zehn Befragten, dass sie keine zweite Meinung zu einem IGeL-Angebot einholten.

www.igel-monitor.de

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