Prediger in der Wüste

Ernst Toller: Sämtliche Werke in fünf Bänden

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich habe eine stille Liebe zu Tollern. Der Mann hat das, was wir heute alle sagen, in jenen Jahren 1916 und 1917 gesagt, als das noch Kopf und Kragen kostete …; er hat diese Gesinnung durchgehalten, mit der Tat und mit dem Wort, und er hat für diese seine Gesinnung bezahlt. Und das darf man nie vergessen.

Kurt Tucholsky, 1931

Naiv war er gewesen. Er merkte es bald. Er hatte 1914, sehr jung noch, freiwillig den Waffenrock angezogen, um begeistert in den Krieg zu ziehen. In der Schule hatte er gelernt, schrieb er später in der Einleitung zu seinen »Briefen aus dem Gefängnis«, »daß der Tod auf dem Schlachtfeld ein heroischer Tod sei, und daß ›im Bett zu sterben‹ dem deutschen Manne nicht gezieme«. Vor Verdun, in Pont-à-Mousson und im Höllenkessel des Priesterwalds erlebte er, was Krieg wirklich bedeutet. Und wurde sein erbitterter Gegner. Ende 1918 stand er schon in der Front streikender Arbeiter, und er war auch dabei, als die Novemberrevolution Bayern erreichte, ein Idealist und Rebell, der die Welt bessern wollte.

Unter den Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts war er einer der Tapfersten, ein Feuerkopf mit Liebe zum Pathos, nicht zu brechen, nicht zu korrumpieren, »mutig bis zur Selbstverleugnung«, wie Hermann Kesten schrieb, ein zarter, sanfter Dichter und glühender, leidenschaftlicher Kämpfer, ein Dramatiker, der mit seinem Stück »Die Wandlung«, 1918 im Militärgefängnis vollendet, einen Welterfolg schaffte, ein Publizist und begnadeter Redner, der 1933 mit seiner umjubelten Ansprache auf dem PEN-Kongress in Dubrovnik die Stimme des Exils wurde.

Die ihn aus der Nähe kannten, Klaus Mann, Hermann Kesten, Kurt Hiller, widmeten ihm nach 1945 rührende, begeisterte, hochherzige Erinnerungen. Und beklagten zugleich, dass man ihn kaum noch kenne, nicht mehr lese und selten noch spiele. Da war Ernst Toller, der früh stigmatisierte Jude, der sich 1939 in einem New Yorker Hotel erhängt hatte, erst ein paar Jahre tot.

Es hat lange gedauert, bis man ihn wieder wahrnahm. 1959 brachte der Verlag Volk und Welt ausgewählte Schriften, herausgegeben von der Akademie der Künste. 1961 dokumentierte auch Hiller »den ganz ungewöhnlich hohen Rang dieser lautern und leidenschaftlichen Gestalt« in einem Rowohlt-Band mit Gedichten, Prosa, Dramen und einigen Briefen. Ein paar Einzeldrucke, darunter »Das Schwalbenbuch« und die Autobiografie »Eine Jugend in Deutschland«, kamen später dazu, ehe der Münchner Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald 1978 im Hanser-Verlag eine respektable Werksammlung vorlegte, sechs rote Broschuren, Dramen, Gedichte, Reportagen, kritische Schriften. Sie ist seit langem vergriffen.

Und nun diese Ausgabe: »Sämtliche Werke« in einer kritischen Edition, fünf starke Bände in sechs Büchern, Ergebnis jahrelanger Arbeit und intensiver, mühseliger Suche. Fünfzehn Herausgeber haben alles zusammengetragen (und reich kommentiert), was Ernst Toller geschrieben hat, die Lyrik, die Stücke, die autobiografischen Schriften, Aphorismen und Anekdoten, die kleinen Erzählungen, das enorme publizistische Werk mit den Reisebildern aus Amerika und Russland, den Reden und Manifesten, Artikeln und Rezensionen, die Hörspiele und Filmskripte, vieles davon nie oder nie wieder veröffentlicht. Und sie haben sich damit nicht zufrieden gegeben. Hier und nur hier kann man finden, was so lange unbeachtet in den Tiefen der Archive lag: die Verhörprotokolle des Militärgerichts, die Münchner Manifeste, Aufrufe, Erlasse und Diskussionsreden Tollers, die verstreuten Interviews und Gespräche, kostbare Dokumente der Zeit- und Literaturgeschichte.

Der Wallstein-Verlag, bewundert für seine aufwendigen, spektakulären, seltenen Editionen, unterstreicht damit erneut seine Ausnahmestellung. Er bietet die fabelhafte, attraktiv gestaltete Ausgabe mit ihren Ganzleinenbänden (auch das eine Seltenheit inzwischen) in einer Kassette an, oben bedruckt mit einem programmatischen Toller-Satz: »Ich beginne, an der Notwendigkeit einer Ordnung zu zweifeln, in der die einen sinnlos Geld verspielen, und die anderen Not leiden.«

Der Dichter Ernst Toller wechselte 1918, nach mehrmonatigem Militärarrest und der Entlassung aus dem Heer, in die Politik. Und ohne dass er es jemals darauf angelegt hätte, stand er auf einmal an der Spitze der bayerischen Revolution. Ende Februar 1919 war sein Freund Kurt Eisner erschossen worden, Anfang April wurde die Räterepublik ausgerufen, und er war der Mann, der ihre Geschicke in der Hand hielt. Sechs Tage lang, bis zum Putsch der Kommunisten, regierte er München, schrieb Appelle (»Setzt euch über alle Führer hinweg, wenn sie gegen die Einigkeit des Proletariats sind«), Aufrufe, Erlasse, Bestimmungen, wiedergegeben im vierten Band der Ausgabe, einem Band mit einer Fülle wunderbarer Entdeckungen. Da gibt es die Proklamation gegen antisemitische Hetze, Verordnungen über die Beschlagnahme von Wohnräumen und gegen Mietwucher, Verfügungen über Lohnzahlung, die Sozialisierung des Bergbaus und der Presse, gegen Störungen des Wirtschaftslebens und die Kapitalflucht ins Ausland, einen Beschluss über die Entwaffnung der Bourgeoisie.

Toller arbeitete mit Hochdruck. Wahrscheinlich ahnte er, dass sich die Räterepublik nicht lange halten würde. Am 1. Mai 1919 war alles vorbei. Reichstruppen und Freikorps eroberten München, Toller, von den weißen Terrorbanden gejagt, tauchte unter, wurde verhaftet, in die Todeszelle geworfen und schließlich zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er war dreißig, als er wieder frei war, fest entschlossen, weiter für seine Ideale zu leben. »Mein Haar wird grau«, schrieb er. »Ich bin nicht müde.«

Zehn Jahre danach begann das Exil. Der gefeierte Dramatiker und Verfasser des erfolgreichen, in der Zelle geschriebenen »Schwalbenbuchs« ergänzte seinen Lebensbericht um ein weiteres Kapitel. Es handelte vom Verhängnis, dem »Zusammenbruch von 1933«, und fragte: »Wo seid Ihr, meine Kameraden?« Die an seiner Seite waren, in Zürich, in London, dann in New York, erzählten bewundernd, wie er sich sofort und ganz allein an die Arbeit machte, sich mit großem Ernst und stillem Zorn, ruhelos und unverzagt um die Not anderer kümmerte. Wieder hielt er Reden, er mahnte, appellierte, engagierte sich für die Volksfront und das kämpfende Spanien, er sah Hitlers Krieg voraus, die blutige Zukunft, sprach auf Kongressen und im Radio über Rassenhass und die Naziwillkür in Deutschland, hielt auf einer ausgedehnten Reise Vorträge in den USA und Kanada. Man kann die Zeugnisse all dieser Aktivitäten jetzt zum ersten Mal lesen.

Toller rieb sich auf und litt dabei, was niemand bemerkte, selber, gemartert von Schlaflosigkeit und Depressionen. Am 22. Mai 1939 nahm er sich, fünfundvierzig Jahre alt, das Leben. »Er hatte es satt«, schrieb Hermann Kesten, »ein Prediger in der Wüste zu sein.«

Ernst Toller: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hg. im Auftrag der Ernst-Toller-Gesellschaft von Dieter Distl und anderen. Wallstein Verlag. 5 Bände in 6, zus. 4.304 S., geb. im Schuber, 289 €.

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