«Theater war mein Leben»

Käthe Vogeler-Seelig, geboren am 18. April 1915, ist noch immer voller Neugier.

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 7 Min.

Glück oder Pech« hieß 2007 das Motto des 6. nd-Lesergeschichten-Wettbewerbs, an dem sich auch Dr. Käthe Vogeler-Seelig mit einer berührenden Geschichte beteiligte. Was für ein Glück, denn so lernten wir uns kennen. Anfangs schrieben wir uns E-Mails, sie äußerte sich vor allem zur Zeitung, der sie sich seit fast 60 Jahren verbunden fühlt. Ich lernte sie als eine politisch engagierte Frau kennen, die das Herz am rechten Fleck und nicht selten auf der Zunge trägt. Mit den Jahren wurde aus der zufälligen Bekanntschaft eine Freundschaft. Nach und nach ließ sie mich auch an ihrem persönlichen Leben teilhaben - das alles andere als geradlinig oder gar leicht war. Am heutigen Samstag feiert Dr. Käthe Vogeler-Seelig mit ihrer Familie, Freunden, ehemaligen Studenten und Weggefährten ihren 100. Geburtstag. Noch immer neugierig aufs und mittendrin im Leben.

Das begann mitten im Ersten Weltkrieg in Halle. Der Vater war an der Front, die Mutter musste im Krankenhaus Verwundete versorgen, deshalb kümmerte sich die Großmutter viel um das Mädchen. Käthe vergötterte ihre gütige, belesene Oma Marie, die das Kind schon sehr frühzeitig mit ihrem geliebten Schiller infizierte. Eine Liebe fürs Leben. Viele Balladen, die sie von der Großmutter lernte, kann sie noch heute bühnenreif rezitieren. »Ich wäre so gern Schauspielerin geworden«, erzählt sie. Doch da hatte der strenge Vater entschieden etwas dagegen. Trost fand sie bei der Oma und in deren Büchern.

In Kunst, Literatur und Sprachen glänzte das aufgeweckte Mädchen in der Schule, ganz anders als in Naturwissenschaften. Ostern 1933, drei Monate nach dem Machtantritt der Nazis, legte sie ihr Abitur ab. Trotz des guten Zeugnisses war an ein Studium nicht zu denken, der Vater war seit Jahren arbeitslos, und mit dem, was die Mutter mit Nähen verdiente, kam die Familie, zu der inzwischen noch zwei jüngere Geschwister gehörten, gerade so über die Runden. So wurde Käthe Bibliothekarin, arbeitete erst in Köln, später in den Riebeck’schen Montanwerken Halle, wo am 31. März 1945 der Krieg, nur einen Monat, nachdem er ihr schon den Geliebten genommen hatte, sie mit aller Härte einholte. Es war Ostersamstag gegen 10 Uhr, als die amerikanischen Bomber im Anflug auf Halle waren. Mit ihrer Freundin Charlie und 19 anderen flüchtete sie in einen Luftschutzkeller 17 Meter unter der Erde. »Wir setzten uns auf die Bänke aus Baumstämmen, abgestützt von noch dickeren Stämmen und wähnten uns in Sicherheit. Doch wenige Minuten später hatten wir die Erde und die Stämme über uns im Kreuz. Der Stoß drückte uns zusammen, die Beine wurden eingeklemmt, wir konnten uns nicht mehr rühren. Dann wurde ich ohnmächtig«, erinnert sie sich, als sei es gestern gewesen. Als Käthe schwer verletzt wieder zu sich kam, erfuhr sie, dass außer ihr nur noch ein Mann überlebt hat. Das tragische Schicksal ihrer Freundin verarbeitete Käthe Vogeler-Seelig später in ihrem autobiografisch gefärbten Roman »Dornen am Strauch«.

Am 6. April wurde Halle noch einmal bombardiert, danach war die Stadt nicht mehr wiederzuerkennen. Wie viele andere schwor sich die damals 30-Jährige, alles zu tun, damit das Morden endlich aufhört. Es wurde für sie zu einer Lebensmaxime. 1947 trat sie der SED bei, der sie trotz aller Verbundenheit nie unkritisch gegenüberstand und dafür so manchen Rüffel kassierte. Beispielsweise, als sie 1953 der Parteikontrollkommission vehement ihre Stimme verweigerte, als diese im Zuge stalinscher Säuberungsaktionen den Schulleiter der kulturellen Weiterbildungsstätte in Meißen, wo sie arbeitete, absetzen wollte. Bis heute kämpft sie gegen soziale Ungerechtigkeiten an, macht sich stark gegen das Wiedererwachen rechter Gesinnungen, mischt sich ein in die Politik, engagiert sich für Flüchtlinge. Mit Gedichten, Erzählungen, Leserbriefen, Geld und Ideen. So bat sie darum, statt ihr Geschenke zum 100. Geburtstag zu machen, Geld für ein Theaterprojekt zu spenden, durch das Flüchtlingskinder spielerisch Deutsch lernen sollen.

Dass Kunst, Kultur und Theater viel im Denken und Handeln bewirken können, davon ist sie zutiefst überzeugt. Deshalb gründete sie auch sehr schnell nach Kriegsende eine Theatergruppe in der Landesregierung Sachsen-Anhalt, wo sie einen Job als Bibliothekarin fand. Bald schon wurde sie zu einem Lehrgang für Laienspielgruppen geschickt, weitere kulturelle Weiterbildungen in Meißen, Leipzig und Erfurt folgten in den nächsten Jahren. Ihr Mann Georg Seelig, mit dem sie seit Ende der 40er Jahre zusammenlebte, kümmerte sich während ihrer Abwesenheiten gemeinsam mit Käthes Mutter um den im Mai 1949 geborenen Sohn Volcker.

Auf eine harte Bewährungsprobe wurde die Familie gestellt, als Käthe Seelig 1955 nach dem Abschluss ihres Studiums an der Zentralschule für Kultur in Erfurt das Angebot erhielt, Assistentin im Bereich Ästhetik der Theaterhochschule Leipzig zu werden. Sie könne die Stelle sofort antreten, sagte ihr der Rektor Prof. Otto Lang beim Vorstellungsgespräch, einzige Bedingung sei, dass sie neben ihrer Lehrtätigkeit noch ein Fernstudium der Theaterwissenschaften an der Karl-Marx-Uni mache. Sie sagte zu, wohlwissend, dass die nächsten Jahre hart werden würden. Aber die Chance, ihrem geliebten Theater doch noch ganz nah zu kommen, wollte und konnte sie sich nicht entgehen lassen. Noch heute ist sie ihrem Mann, der als Rechtsanwalt selbst beruflich stark eingebunden war, zutiefst dankbar, dass er ihr für diesen extrem schwierigen Neuanfang so weit es ging den Rücken frei hielt. Käthe Seelig legte nicht nur neben Job, Familie und Haushalt das Diplom mit »Sehr gut« ab, sondern hängte auch gleich noch ihre Dissertation dran, die sie 1963 mit »magna cum laude« verteidigte - als inzwischen 48-Jährige.

Nicht nur ihre Familie war stolz auf sie, auch bei ihren Studenten hatte die ehrgeizige Dozentin einen hohen Stand. Viele von jenen, die die Theater- und Kulturszene der DDR mitbestimmten, gehörten zu ihren Studenten, wie Harry Kupfer, Eberhard Esche, Gudrun Ritter, Thomas Langhoff, Klaus Piontek, Peter Bause, Peter Ensikat oder Kurt Nolze.

Anfang Dezember 1965, kurz vor dem 11. Plenum des ZK der SED - in dessen Mittelpunkt eine Abrechnung mit kritischen Kunst- und Kulturschaffenden stand - veröffentlichte die Zeitschrift »Forum« einen kritischer Brief der Studenten der Leipziger Theaterhochschule. Der wurde vom ZK zum Anlass genommen, der Schulleitung und der Schulparteileitung über einen Beitrag im »Neuen Deutschland« öffentlich vorzuwerfen, sie würden dulden und befördern, »dass unter dem Einfluss idealistischer Auffassungen, besonders des Skeptizismus, der zum Maß aller Dinge erklärt wurde«, an ihrer Schule Anarchie als Freiheit aufgefasst werde und dass die Studenten Pazifismus predigen würden. »Eine Versammlung reihte sich an die andere, und ein Funktionär gab dem nächsten die Klinke in die Hand, man erwartete, dass wir mea culpa riefen und die Mängel unserer Erziehung einsehen. Für die Studenten hieß es, ihre Fehler gutzumachen, indem sie das Studium unterbrechen und sofort ihren Wehrdienst antreten«, erzählt die Jubilarin. »Wenigstens Exmatrikulationn der angeblichen Querulanten konnten wir verhindern, das schweißte das Vertrauen von Lehrern und Studenten weiter zusammen.« Ein Vertrauen, das bei vielen der einstigen Studenten bis heute zu ihrer alten Lehrerin anhält.

Seit Käthe Seelig 1975 Rentnerin wurde und 1980 mit ihrem zweiten Mann Rudolf Vogeler - einem Kollegen, den sie Jahre nach dem Tod ihres Schorschs heiratete - in dessen Heimatort Rangsdorf zog, engagiert sie sich dort kulturell und politisch. »Das hat mir das Einleben leicht gemacht.« Mit ihren 100 Jahren ist sie gewissermaßen die Grande Dame der Rangsdorfer Kulturwelt, im Januar verlieh ihr der Bürgermeister als Erster die in diesem Jahr gestiftete Ehrennadel für besondere Verdienste für den Ort. Käthe Vogeler-Seelig gehörte in Rangsdorf unter anderem zu den Gründungsmitgliedern des Künstlervereins Gedok und ist aktiv im Kulturverein. So manch einen ihrer einstigen Studenten konnte sie schon überreden, hier aufzutreten. Still sitzen ist nicht ihr Ding, auch nicht mit 100. Nur der ebenfalls in Rangsdorf lebende Maler und Freund Ronald Paris schaffte es, sie für ein Porträt mal länger im Sessel festzuhalten.

Fast täglich arbeitet sie noch am Computer, dessen Benutzung sie sich vor 15 Jahren selbst beibrachte. Neben dem Roman »Dornen am Strauch« publizierte Käthe Vogeler-Seelig seit 1997 mehrere Gedicht- und Erzählbände. Zwei Hörspiele und ein Theaterstück, das 1962 in Meiningen uraufgeführt wurde, schrieb sie schon zu DDR-Zeiten. Viele unveröffentlichte Gedichte und Geschichten liegen noch in der Schublade, denn es drängt sie, alles, was sie bewegt, in Worte zu fassen. Ginge es nach ihr, könnten die Tage ruhig etwas länger sein, denn »ich hänge nach mit dem Aufschreiben meiner Lebenserinnerungen für meine Enkel und Urenkel.«

Alles Gute zum Geburtstag, liebe Käthe, mögen Dir noch viele Sommer beschert sein!

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