Gewinner der Einheit

Görlitz fasziniert mehr durch Geist und Kulisse. Ein kluger Kopf kann hier aber auch Wirtschaftserfolg haben. Von Michael Bartsch

  • Michael Bartsch
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt prächtige Villen in Görlitz und noch mehr Gründerzeit- und Jugendstilhäuser, meist in geschlossener Blockrandbebauung. Ein Flächendenkmal, wie kaum eine zweite deutsche Stadt es bietet. Eine Jugendstil-Villa an der Neiße unweit der Straßenbrücke ins polnische Zgorcelec sticht mit markantem Eckturm heraus. Hier sitzt eine Firma, die idealen Stoff für Wiedervereinigungs-Bilderbücher liefern könnte und ebenso zum Selbstanspruch einer Europastadt passt.

Ein Metallschild am Treppenaufgang zur Beletage: »Erdmann Softwaregesellschaft mbH«. Firmengründer Ulrich Erdmann ist 58 Jahre frisch, nach Herkunft und Gemüt erkennbar Ossi und überaus erfolgreich. »Wir sind Weltmarktführer bei der Softwareentwicklung für die Gleisinstandhaltung«, erklärt Erdmann ganz unaffektiert. Nicht nur bei der Deutschen Bahn, auch bei einem Streckennetz von 160 000 km in ganz Europa kommen Systeme wie IIS und IRISSYS zum Einsatz. Die Expansion nach Australien und die Beteiligung eines holländischen Unternehmens stehen bevor. Etwa 3,5 Millionen Euro Umsatz macht die Firma mit 40 Mitarbeitern jährlich, knapp die Hälfte kann sie als Gewinn verbuchen.

Der gebürtige Magdeburger Ulrich Erdmann kam zum Studium nach Görlitz, als die Ingenieurschule für Elektronik und Informationsverarbeitung noch »Friedrich Engels« hieß. Wie die Innenstadt damals aussah, zeigt eine aktuelle Fotoausstellung des bekannten Dresdner Architekturfotografen Jörg Schöner in den ehemaligen Werkhallen der KEMA. Erschütternde Bilder des Verfalls vom Beginn der 1980er Jahre neben den Bildern von heute in gleicher Perspektive. Allerdings verweist das Ambiente der Ausstellung selbst darauf, dass mit der Rettung der Altstadt und der Wende nicht ausschließlich die Frohe Zukunft anbrach. Der Keramikmaschinenhersteller KEMA meldete 2013 Insolvenz an.

Zweifellos aber stehen der restaurierte Stadtkern mit bis in die Gotik zurückreichenden Bauten und die hellen Fassaden der umliegenden Gründerzeitviertel für den Ruf, den sich die östlichste Stadt Deutschlands nach 1990 wiedererworben hat. Nicht erst für »Grand Budapest Hotel« und zahlreiche weitere Streifen, sondern schon zu DDR-Zeiten diente die Stadt häufig als Filmkulisse. Unbewohnte Bruchbuden bilden inzwischen die Ausnahme. An einer bunt bemalten am Postplatz nahe des Zentrums prangt oben die riesige Aufschrift »Verfall feiern!!!«.

Dieser Meinung ist Hartmut Wilke, der Amtsleiter für Stadtentwicklung, natürlich überhaupt nicht. »Etwa zwei Drittel der Sanierungsvorhaben sind geschafft«, stellt er mit Genugtuung fest. Bundesmittel hatten daran neben Privatsanierern einen bedeutenden Anteil. Wenn anderswo der »Stadtumbau Ost« vor allem als Abrissprogramm, als Marktbereinigung auf Staatskosten verstanden wurde, sei es in Görlitz gelungen, den Schwerpunkt auf die Wiederherstellung historischer Bausubstanz zu legen.

Als nach der Währungsunion Chancen und Zusammenbrüche dicht beieinander lagen, musste Ulrich Erdmann eigentlich nicht um seine Arbeit kämpfen. Dieser 1. Juli 1990 kam ihm allerdings auch zu schnell. »Wir hätten erst einmal selber wachsen müssen«, meint er rückblickend. Es war auch an der Neiße tatsächlich nicht alles so schlecht wie der Zustand Görlitzer Häuser. Der Hochschulmitarbeiter entwickelte die Ausstattung für Messfahrzeuge der Deutschen Reichsbahn. Als das kuriose Reichsüberbleibsel durch die Bahn des neuen Bundes abgelöst wurde, erwies sich der planwirtschaftliche Messwagen als dem westdeutschen Stand ebenbürtig. Nicht anders sein maßgeblicher Entwickler. Erdmann wurde übernommen, arbeitete im nordrhein-westfälischen Minden als Softwareentwickler für die Deutsche Bahn, stieg sogar zum Leiter auf.

Zwischen Görlitz und Minden pendelnd, entschied er sich trotz eines guten Mindener Angebots für die Neiße - und für die Selbstständigkeit. Wohl wissend, was er kann und wie wenig er auf seinem Spezialgebiet ersetzbar ist. »Man braucht nur einen PC, einen Schreibtisch und vor allem einen Kopf!« Mit einem bescheidenen PC-Laden in Görlitz fing er an, ein erster größerer Auftrag zur Ausstattung von Schulen kam, dann 1993 mit der Bahn der erste Vertragsabschluss über eine Million Mark! 1994 wurde seine GmbH mit lediglich zwei Mitarbeitern eingetragen.

Wirtschaftlich ging es mit Görlitz nicht so kontinuierlich bergauf wie mit Erdmanns Software. Ihre alte Handelsfunktion an der Via Regia, als Tor zum Osten, füllt die Stadt bestenfalls kulturell aus. Wohl rollen die Transitströme auf der A4 vorbei, aber ausgerechnet von der Bahn wird Görlitz immer mehr abgehängt. Der traditionelle Waggonbau hat aber überlebt, im Bombardier-Konzern ist Görlitz Leitbetrieb für die Doppelstockwagen. Sonst jedoch gibt es außer dem Siemens-Turbinenbau keine größeren Gewerbesteuerzahler. Noch verfügt die Stadt über einen ausgeglichenen Haushalt.

Stadtentwickler Wilke nennt andere, weiche Faktoren, die die Anziehungskraft von Görlitz ausmachen. Auch wenn die Kulturhauptstadt-Bewerbung 2010 knapp am Konkurrenten Essen scheiterte, auch wenn die Stadthalle still klagend dahindämmert, gilt Görlitz doch als Kulturstadt. Aus der Bewerbung stammt das Projekt eines deutsch-polnischen Brückenparks beiderseits der Neiße. Theater und Museen sind 2011 um den für die sächsische Landesausstellung hergerichteten Kaisertrutz bereichert worden. Hochschule, weitere Schulen und das Klinikum binden akademisches Personal.

Stadtplaner Hartmut Wilke erwähnt niedrige Mieten bei günstigen Wohnbedingungen, die sowohl junge Leute als auch flexible und vor allem westdeutsche Senioren anziehen. Schon Bismarck wollte sich 1871 pensionieren lassen und nach Görlitz ziehen, weil er wusste, »dass es sich dort gut lebe«. Der Leerstand in der einst knapp über 100 000 Einwohner zählenden Stadt verringert sich, die Einwohnerzahl stieg in den vergangenen Jahren wieder leicht. Mit dem Berzdorfer See lädt ein ehemaliger Tagebau in der Nachbarschaft zur Erholung. Eingeladen fühlen sich leider auch zahlreiche Diebe.

Von Vorsicht oder gar Ressentiments ist in der Erdmann-Villa nichts zu spüren. Die natürliche, entgegenkommende Atmosphäre bestätigt, was der Chef über das Klima im Haus sagt. Chef will er nämlich gar nicht sein, eher Primus inter pares. Mit den Spitzen der französischen SNCF-Bahnen, die eben das Haus verlassen haben, muss er natürlich selbst verhandeln. Ansonsten aber hat er auch das Leben jenseits der Firma wieder entdeckt, vor allem die Musik in der Big Band der städtischen Musikschule. »Disziplin, aber kein Stress«, lautet sein Motto. Auch dafür bekam er im Vorjahr den Wirtschaftspreis der Europastadt - ohne je einen Cent Wirtschaftsförderung erhalten zu haben.

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