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Pierre, Daniel und André - Kinder von Kommunisten

Sebastian Voigt begab sich auf die Spuren des jüdischen Aufbruchs 1968 in Frankreich

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Jahrzehnt zwischen Mai 1968 und Herbst 1979 markiert in der Geschichte der französischen Linken den Wandel von illusionären Vorstellungen über eine sozialistische Revolution zu einer Abkehr von marxistischen Gesellschaftsvorstellungen. An der Vorgeschichte und an dieser Entwicklung waren jüdische Protagonisten an prominenter Stelle beteiligt. Sebastian Voigt, Mitarbeiter am Münchener Institut für Zeitgeschichte, hat das Wirken von drei herausragende Persönlichkeiten in seiner Dissertation untersucht, die jetzt in überarbeiteter und aktualisierter Form in der Schriftenreihe des Simon-Dubnow-Instituts in Leipzig erschienen ist. Ein außergewöhnlich interessantes Werk, das drei Dimensionen der politischen Biografien von Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann betrachtet und verbindet: die politische Geschichte Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, die Verfolgung der europäischen Juden durch die Nazis und die Folgen für die nächste Generation sowie die Entwicklung linkssozialistischer Theorien und Aktionen im Zusammenhang mit den Ereignissen des Mai 1968.

Pierre Goldman ist in Deutschland kaum bekannt. In Frankreich ist er durch einen Strafprozess, der an die Dreyfus-Affäre erinnerte und durch seine Ermordung am 20. September 1979 auf offener Straße durch eine rechtsextremistische Gruppe als eine der zentralen Figuren des »revolutionären« Mai ’68 in Erinnerung. Für Pierre Goldman, dessen Eltern vor den Nazis nach Frankreich geflohen waren, war die Shoa und die linkssozialistische Kampferfahrung seiner Eltern lebensbestimmend. Deren Kampf im Spanischen Bürgerkrieg motivierte ihn später, Kontakt zu Guerillas in Südamerika aufzunehmen und, zurück in Frankreich, von dem Aufbau einer Stadtguerilla zu schwärmen. Er verschaffte sich für seine Aktivitäten Geld durch Überfälle und wurde dann - fälschlich - des Mordes an zwei Apothekern in Paris angeklagt und zu lebenslänglicher Strafe verurteilt. Der Prozess wühlte die französische Linke auf. Goldman erhielt breite Unterstützung und schrieb im Gefängnis ein Buch zu seiner Verteidigung: »Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden«. Das Verfahren wurde schließlich wieder aufgenommen und Goldman vom Vorwurf des zweifachen Mordes freigesprochen. Wieder auf freiem Fuß wurde er dann ermordet. Die Beerdigung wurde von einem Trauerzug von mehr als 10 000 Menschen begleitet. Voigt nennt diese Trauerfeier den Schlusspunkt unter dem Kapitel »Mai ’68«.

Ähnlich wie Pierre Goldman behandelt der Autor auch die beiden anderen Hauptpersonen von ihrem familiären Hintergrund aus. Daniel Cohn-Bendits Eltern waren bis zur Flucht vor den Nazis linke Aktivisten und Juristen in Berlin. Sie flohen nach Paris, später in die zunächst noch unbesetzte Zone von Vichy-Frankreich und kehrten nach dem Krieg nach Deutschland zurück. Ihr in Montauban als Staatenloser geborener Sohn Daniel nahm die deutsche Staatsangehörigkeit an und wurde wegen seiner Aktivitäten im Mai ’68 aus Frankreich ausgewiesen. Erst zehn Jahre später konnte er wieder einreisen.

Die Familie von André Glucksmann stammte aus der ehemaligen Habsburger Monarchie, sein Vater aus Czernowitz, seine Mutter aus Prag. Beide waren Kommunisten und stellten sich später in Berlin, Wien und Paris in den Dienst des Komintern. .

Alle drei von Voigt untersuchten politischen Lebensläufe ähneln sich in vielen Punkten: Die Eltern waren Juden und erlebten in ihren Heimatländern antisemitische Verfolgungen. Auch in Frankreich waren sie oft einem feindseligen Antisemitismus ausgesetzt. Alle waren im Widerstand, waren Kommunisten und wurden irgendwann mit den stalinistischen Auswüchsen in der Sowjetunion konfrontiert. Ihre Kinder, die im Mittelpunkt des Buches stehen, haben mit dieser doppelten Hypothek - Jude zu sein und die elterliche Tradition des kommunistischen französischen Widerstandes gegen Nazis fortzuleben - in Frankreich auf unterschiedliche Weise zurechtkommen müssen. Das große Verdienst dieses glänzend geschriebenen Buches ist es, diese Fäden zu einer großen zeitgeschichtlichen Studie zusammengebunden zu haben.

Sebastian Voigt: Der jüdische Mai ’68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015. 383S., geb., 69,99 €.

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