Für Syriens Minderheiten geht es um alles

Für die UNO ist das Flüchtlingsdrama des nahöstlichen Landes das schlimmste seit Ruanda 1994

  • Karin Leukefeld und 
Roland Etzel
  • Lesedauer: 3 Min.
Im fünften Jahr des Krieges in Syrien hat das UN-Hilfswerk für Flüchtlinge vier Millionen Syrer außerhalb ihrer Heimat registriert, dazu kommen mehr als doppelt so viele Binnenflüchtlinge.

Allein die nüchternen Zahlen weisen das syrische Flüchtlingsdrama derzeit als das verheerendste aus: 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge leben in Libanon, 1,5 Millionen in der Türkei. Irak, das rund zwei Millionen eigene Inlandsvertriebene zu versorgen hat, nahm aus Syrien rund 250 000 Hilfesuchende auf. In Jordanien haben 630 000 Menschen aus Syrien Zuflucht gefunden. Nach Europa haben es bisher etwa 200 000 Syrer geschafft.

Zu den großen Verlierern des aktuellen Krieges gehören auch die syrischen Palästinenser. Rund 500 000 palästinensische Flüchtlinge hatten in Syrien eine sichere Bleibe gefunden. Mehr als die Hälfte von ihnen hat das Land aber seit 2011 verlassen, denn die Palästinenserlager in Syrien, die eine Art Satellitenstädte geworden waren, sind jetzt fast vollständig zerstört.

Die Dimension des Dramas ist eine Folge der politischen Entwicklungen im Land. Angestoßen wurde sie von außen: Als die Proteste in Tunesien und Ägypten zur Jahreswende 2010/11 begannen und mit den Umstürzen endeten, gab es auch in Syrien lokale Protestaktionen, die umgehend niedergeschlagen wurden. Daraus entwickelte sich dennoch eine Aufstandsbewegung, die von den konservativen Monarchien der Arabischen Halbinsel und den westlichen Staaten vereinnahmt wurde. Der Hauptgrund: Waren die gestürzten Präsidenten Tunesiens und Ägyptens enge Verbündete des Westens gewesen, so stand Syriens Präsident Baschar al-Assad auf ihrer Abschussliste.

So wurde aus dem nationalen Konflikt bis heute ein regionaler Stellvertreterkrieg. Die Gegner Syriens in Jordanien, Saudi-Arabien, den anderen Golfstaaten und der Türkei investierten »Hunderte Millionen Dollar und Tausende Tonnen Waffen in jeden«, der gegen Syriens Präsidenten kämpfen wollte, wie US-Vizepräsident Joe Biden im Oktober 2014 offen einräumte. Die verbündeten sunnitischen Monarchien in der Region sahen ihr Ziel darin, die in ihren Augen alevitisch-schiitischen »Ungläubigen« in Damaskus endlich von der Macht zu beseitigen. Allerdings verfügt diese über erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung, so dass dieses Vorhaben bis heute nicht gelang. Besonders für die alevitische und die christliche Minderheit in Syrien geht es dabei ums nackte Überleben, sollte Assad den Krieg verlieren.

Das erbitterte Ringen zwischen Regierungstruppen, Christen, nichtsunnitischen Muslimen und allgemein religionsfernen Syrern auf der einen Seite und den zahlreichen regierungsfeindlichen Milizen - vor allem die Dschihadisten vom Islamischen Staat und der Nusra-Front - führte vor allem im Verlauf der vergangenen drei Jahre zu einem gewaltigen Exodus aus den umkämpften Gebieten. Diese umfassen heute fast das gesamte Land, nicht zuletzt die Metropolen wie Aleppo und Homs, aus denen allein jeweils über eine halbe Million Menschen fliehen musste. Von derzeit offiziell nach UN-Angaben 11,6 Millionen Syrern auf der Flucht haben mindestens vier Millionen ihren Staat ganz verlassen. 7,6 Millionen haben bis dato ihr Zuhause infolge von Kriegshandlungen verloren oder aufgegeben und halten sich jetzt in anderen Gebieten Syriens auf. Die UNO bezeichnet die Flüchtlingskrise in Syrien als die schlimmste seit dem Völkermord in Ruanda 1994.

Der türkische Staat reklamiert für sich, die Hauptlast bei der Versorgung syrischer Flüchtlinge im Ausland zu tragen. Zweifellos ist die Türkei dadurch stark belastet. Doch ebenso unbestreitbar dürfte sein, dass Ankara durch seine Großmachtpolitik und seine Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg auf Seiten der Assad-Gegner nicht unwesentlich zur Dauer und Intensivierung des Krieges und damit auch zu den hohen Flüchtlingszahlen beigetragen hat. Außerdem gelten die Lager in der Türkei wie auch in Jordanien als Orte, an denen die Dschihadistenmilizen ziemlich ungehindert Kämpfer rekrutieren können.

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