Fahrlässig in die Katastrophe?

Tausende Klagen und vertrauliche Papiere bringen japanischen AKW-Betreiber Tepco in Bedrängnis

  • Susanne Steffen, Tokio
  • Lesedauer: 3 Min.
Fukushima-Betreiber Tepco wird wegen Fahrlässigkeit von rund 10 000 Menschen verklagt. Sie werfen dem Unternehmen vor, es habe von mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen gewusst.

Gut viereinhalb Jahre nach der Fukushima-Katastrophe setzen Sammelklagen in verschiedenen Prozessen den Betreiber Tepco unter Druck. Der Vorwurf: grobe Fahrlässigkeit beim Katastrophenschutz. Die Kläger fordern die Herausgabe eines brisanten Dokuments.

Kürzlich hat ein Richter des Distriktgerichts in Kobe Tepco angewiesen, ein vertrauliches Papier vorzulegen, in dem zusätzliche Anti-Tsunami-Maßnahmen im AKW Fukushima Daiichi als »unvermeidlich« bezeichnet werden. Das Dokument wurde bereits 2008, gut zweieinhalb Jahre vor dem Unfall, für ein Treffen mit dem damaligen Leiter des Kraftwerks angefertigt. Darin wird nach Informationen japanischer Medien gefordert, dass sich der Konzern auf höhere als bislang angenommene Tsunamis vorbereiten müsse.

Demnach hatte Tepco eine Simulation erstellt, nach der ein Erdbeben der Stärke 8,2 vor der Küste Fukushimas das Kraftwerk unter einem bis zu 15,7 Meter hohen Tsunami versenken würde. Die Simulation basiert auf der Prognose eines dem Wissenschaftsministerium angegliederten Forschungsinstituts, dass sich ein solch schweres Erdbeben in den kommenden 30 Jahren mit 20-prozentiger Wahrscheinlichkeit ereignen werde. Das Kraftwerk liegt lediglich zehn Meter über dem Meeresspiegel. Soweit bekannt, wurden jedoch bis zum Unfall im März 2011 keine weiteren Maßnahmen ergriffen. Seit dem Unfall argumentiert Tepco stets, das Megabeben der Stärke neun und der anschließende 13-Meter-Tsunami, welcher sämtliche Kühlsysteme des Fukushima-Kraftwerks lahmgelegt hatte, seien nicht vorhersehbar gewesen.

Die Kläger hoffen, dass die Gerichte das Tepco-Dokument als Beweis für die grobe Fahrlässigkeit des damaligen Managements in der Katastrophenvorsorge anerkennen. Gegenwärtig laufen an über 20 Orten Prozesse gegen Tepco. Erste Urteile werden frühestens in einem Jahr erwartet. 10 000 Kläger gab es laut Medien noch nie in einem Umweltprozess gegen ein japanisches Unternehmen. Und die Klagewelle geht weiter. Kürzlich hat ein Bürgerkomitee die Staatsanwaltschaft gezwungen, Anklage gegen drei Ex-Spitzenmanager zu erheben. Dieses strafrechtliche Verfahren wird für 2016 erwartet.

Unterdessen arbeitet das neue Tepco-Management daran, die verbliebenen Reaktoren für den Neustart vorzubereiten. Anfang August hatte die Atomaufsicht die Prüfung zweier Tepco-Reaktoren des AKW Kashiwazaki-Kariwa in der Präfektur Niigata vorgezogen. Dass die ersten Tepco-Reaktoren bald wieder ans Netz gehen, ist allerdings unwahrscheinlich. Am Mittwoch erklärte ein Vertreter der Atomaufsicht gegenüber japanischen Journalisten, dass die Kashiwazaki-Kariwa-Reaktoren noch im laufenden Fiskaljahr wieder ans Netz gehen sollen - allein aus Zeitgründen ist dies jedoch aussichtslos.

»Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, über einen Neustart von Tepco-Reaktoren zu diskutieren«, erklärte der Gouverneur der Präfektur Niigata vor wenigen Tagen kategorisch. Schließlich sei nicht einmal geklärt, welche Fehler zum Fukushima-Unfall geführt hätten, sagte der Gouverneur weiter. Bevor die von der Atomaufsicht für sicher befundenen Reaktoren hochgefahren werden dürfen, müssen auch lokale Behörden einverstanden sein.

Mitte August wurde im südjapanischen Kagoshima nach knapp zwei atomstromfreien Jahren der erste Reaktor des AKW Sendai wieder hochgefahren. Er ist der erste, der unter den neuen, nach der Fukushima-Katastrophe eingeführten Sicherheitsbestimmungen ans Netz gegangen ist. Insgesamt stehen 25 Reaktoren in der Warteschleife.

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