Abschreckung ist der falsche Weg

Der Bayerische Flüchtlingsrat lobt die große Solidarität und kritisiert die Politik im Freistaat

  • Lesedauer: 5 Min.
Die Bilder der auf dem Münchner Hauptbahnhof ankommenden Flüchtlinge sind überall zu sehen. Agnes Andrae engagiert sich beim 1986 gegründeten Bayerischen Flüchtlingsrat für Solidarität. Sie organisiert etwa das Festival »Rage against Abschiebung«. Über die aktuelle Situation sprach mit ihr für »nd« Rudolf Stumberger.

Wie bewertet der Bayerische Flüchtlingsrat die scharfe Kritik des CSU-Ministerpräsidenten an der aktuellen Flüchtlingspolitik der Bundesregierung? Horst Seehofer sprach von einem »Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird« und sagte: »Wir kommen bald in eine nicht mehr zu beherrschende Notlage«?
Herr Seehofer muss sich langsam darauf einstellen, dass die jetzige Situation flexible Lösungsansätze braucht. Die von der bayerischen Staatsregierung erdachten Abschreckungsmaßnahmen sind der absolut falsche Weg.

Seit wann und wie kommen syrische Flüchtlinge nach München?
Eigentlich schon sehr lange. Vor Beginn des Bürgerkriegs in Syrien waren es hauptsächlich Regimegegner, Staatenlose, Jesiden und Kurden. Deutschland hatte damals sogar ein Rückübernahmeabkommen mit dem syrischen Regime geschlossen, das die Abschiebungen der hier lebenden Flüchtlinge erleichterte. Seit dem 31. August kommen die meisten Flüchtlinge mit dem Zug in München an. Sie fahren von Ungarn aus über Wien und Salzburg.

Zur Person

Agnes Andrae engagiert sich beim 1986 gegründeten Bayerischen Flüchtlingsrat für Solidarität. Sie organisiert etwa das Festival »Rage against Abschiebung«.

Warum jetzt diese große Zahl?
Die Lage in Syrien spitzt sich zu. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die Nachbarländer wie Türkei, Jordanien und Libanon sind weit über ihre Kapazitätsgrenzen hinaus belastet. Die Menschen fliehen weiter über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Wichtig ist, dass die Türkei die Reise der Flüchtlinge nach Griechenland nicht unterbindet, und dass die dortige Regierung die illegale Abwehr von Flüchtlingen an den Inseln und die Internierung weitgehend gestoppt hat. Dadurch können Flüchtlinge jetzt nach Griechenland einreisen. Dort und in Ungarn haben sie aber keine sinnvolle Perspektive. Auch leben viele Syrerinnen und Syrer in Deutschland, deswegen wollen viele ihrer Landsleute eben berechtigterweise hierher.

Ist das in den Medien präsent?
Natürlich gab es immer wieder Berichte über die prekäre Situation der syrischen Flüchtlinge in Jordanien und Libanon. So richtig mit der Thematik auseinandergesetzt haben sich aber wohl wenige. Jetzt wird in allen Medien über die Lage informiert. Die Berichterstattung konzentriert sich aber auf die Personen, die hier ankommen und wie sie untergebracht werden können.

Überrascht Sie die von den Münchner gezeigte Sympathie für die Flüchtlinge?
Ich glaube nicht, dass das ein münchenspezifisches Phänomen ist, dass die Menschen sich gerade so hilfsbereit zeigen. Menschen in Not zu helfen, ist ein Zeichen von Solidarität und diese zu leisten, kann von einer Gesellschaft durchaus erwartet werden. Das Signal von München ist in anderen Städten aufgegriffen worden.

War die Bayerische Staatsregierung auf die Flüchtlinge vorbereitet?
In diesem Falle hat sie sich, denke ich, nicht wirklich vorbereiten können, da sich die Ereignisse in der vergangenen Woche überschlagen haben. Und jetzt wird eben alles versucht, die Situation zu meistern. Was den Anstieg der Flüchtlingszahlen aber seit mehreren Monaten angeht, bin ich der Meinung, dass die Regierung durchaus mehr hätte vorbereiten können. Die Menschen standen ja nicht auf einmal vor der Grenze. Prognosen und Beobachtungen zu Fluchtbewegungen gibt es durchaus. Allerdings haben sich sogar die Behörden der Länder flexibel gezeigt: Während vorher eine Umverteilung ohne Registrierung im »EASY«-System überhaupt nicht ging, ist das seit dem Wochenende möglich. Vieles hätte durch ein bisschen Behördenflexibilität sehr viel leichter und angenehmer - für Flüchtlinge wie für die Behörden - gestaltet werden können.

Gibt es »gute« Flüchtlinge aus Syrien und »weniger gute« vom Balkan?
Laut der Bayerischen Staatsregierung und vor allem Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gibt es diese Unterscheidung. Er wird nicht müde, von Wirtschaftsflüchtlingen zu sprechen und nimmt ihnen somit das Recht auf ein faires Asylverfahren. Dass Menschen nur wegen der niedrigen Bargeldleistungen nach Deutschland kommen würden, ist einfach lächerlich.

Was ist davon zu halten, dass Bayern »Sonderlager« für Balkan-Flüchtlinge einrichtet?
In diesem sogenannten »Aufnahme- und Rückführungszentrum für Asylbewerber ohne Bleibeperspektive«, von dem ein weiteres in Bamberg geplant ist, werden Flüchtlinge qua Herkunft kaserniert und isoliert, um sie wie am Fließband abzuschieben. Das kann und darf es nicht geben. Jeder Mensch muss das Recht auf ein individuelles Asylverfahren haben. Zudem ist die Zahl der Balkan-Flüchtlinge laut neuen Statistiken zurückgegangen. Dass Herrmann dennoch an seiner Abschreckungspolitik festhält, gießt gerade jetzt, da die Anschlags- und Übergriffszahlen auf Unterkünfte und Flüchtlinge steigen, Öl ins Feuer.

In den Medien wird von der Flüchtlingskrise gesprochen. Wessen Krise ist das?
Die Flüchtlinge müssen im Vordergrund stehen und es muss alles menschenmögliche unternommen werden, dass sie hier Schutz und eine Perspektive finden. Die Situation geht uns alle an, die Rede von einer »Krise« ist meiner Meinung nach unangebracht.

Sollte vor einer Vereinheitlichung des Flüchtlingsrechts in Europa nicht eine einheitliche Regelung in Deutschland stehen?
Es gibt ja durchaus bundesweit einheitliche Entscheidung wie das Urteil des Verfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz. Wenn dies aber nun wieder negiert wird - wie durch die im Maßnahmenpaket des Asylgipfels beschlossene Einführung von Sach- statt Geldleistungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen - dann weiß ich auch nicht …

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