»Wo meine Milch herkommt, kämpfen sie«

Die Märtyrerwoche glorifiziert Massoud als Afghanistans Helden, doch die Begeisterung hält sich in Grenzen

  • Emran Feroz, Kabul
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Afghanistan der Nach-Karsai-Ära ist manches anders, aber wenig besser. Auf die Einlösung der Wahlversprechen des neuen Präsidenten warten die Menschen noch.

Die meisten Straßen sind abgesperrt, der Stau auf den befahrbaren Routen ist chaotisch. Einige Verkehrspolizisten versuchen, das Chaos zu kontrollieren. Kontrolle ist wohl das, was in diesem Land am meisten fehlt. Ansonsten ist auch an diesem nationalen Feiertag das Treiben in Kabul hektisch. Der Markt ist belebt, die zahlreichen Bettler sind dort, wo sie immer sind, während Soldaten mürrisch in der Hitze ausharren.

Es ist nicht irgendein Tag, sondern der Todestag von Ahmad Schah Massoud, Afghanistans offiziellem Nationalhelden, der im Jahr 2001, zwei Tage vor den Anschlägen des 11. Sep-tember, getötet wurde. An seinem Todestag, der gleichzeitig den Beginn der sogenannten Märtyrerwoche darstellt, versammelt sich jährlich die afghanische Politelite in der Hauptstadt und hält Reden auf den einstigen Nordallianzführer, der - so schrieb es zumindest das US-amerikanische »Wall Street Journal« - den Kalten Krieg gewann und später zum Protagonisten im Kampf gegen die Taliban wurde.

In Kabul hält sich die Begeisterung jedoch in Grenzen. Abgesehen davon, dass Massouds Milizen während des afghanischen Bürgerkrieges in den 90er Jahren für zahlreiche Massaker verantwortlich waren und im Kampf mit verfeindeten Fraktionen die afghanische Hauptstadt in Schutt und Asche legten, ist es zum Ritual seiner Anhänger geworden, an seinem Todestag teils schwer bewaffnet durch die Straßen der Stadt zu ziehen, um ihre vermeintliche Dominanz deutlich zu machen. Dabei sind Konterfeis Massouds sowie jene seiner Kriegsherren omnipräsent. Wer nicht mitmacht, kann Probleme bekommen. Viele Autofahrer bringen das Bild des Kriegsherrn an diesem Tag nur an ihrem Auto an, um in Ruhe gelassen zu werden. Nicht selten kommt es zu Ausschreitungen mit Todesopfern.

»Diese Leute, die sich als Massouds Anhänger bezeichnen, dürfen hier machen was sie wollen«, beschwert sich ein Gemüsehändler. »Die meinen doch, über dem Gesetz zu stehen«, sagt einer der vielen Taxifahrer der Stadt. Armee und Polizei tun nur wenig dagegen. Ebenso wie die Politik. Das hat vor allem mit der Tatsache zu tun, dass sowohl militärische als auch politische Führungspersonen aus dem Pandschir-Tal, Massouds Herkunftsort, stammen. Es wurde vor allem während der sowjetischen Besatzung weltweit bekannt. Die meisten dieser Personen wie etwa Abdullah Abdullah, der Regierungschef des Landes, kämpften unter Massoud und verehren ihren Führer bis zum heutigen Tage. Die von Massouds Milizen ausgeführten Verbrechen werden dabei bewusst verdrängt.

Lokal hält sich der Massoud-Wahn jedoch in Grenzen. Außerhalb Kabuls, in Massouds Heimatprovinz Pandschir sowie einigen nördlichen Provinzen des Landes ist er kaum präsent. Währenddessen sind die einstigen Erzfeinde Massouds, die Taliban, auf dem Vormarsch. In Kabuls Nachbarschaft wird seit Tagen heftig gekämpft. »Da, wo meine Milch herkommt, kämpfen sie auch schon«, meint Mustafa, der einen kleinen Laden nahe des bekannten Dar-ul-Aman-Palasts führt. Mustafas Milch stammt aus Logar, einer Provinz unweit von Kabul. Wenn es dunkel wird, zeigen sich die Aufständischen sogar nahe der Hauptstadt.

Obwohl vor Kurzem der Tod von Taliban-Führer Mullah Mohammad Omar verkündet wurde und Berichte über Streitigkeiten bezüglich dessen Nachfolge die Runde machten, scheint die Gruppierung alles andere als geschwächt zu sein. Immer mehr Erfolge werden von den Taliban verbucht, immer mehr Gebiete erobert. Von der afghanischen Regierung werden diese Nachrichten als Propaganda deklariert. Man gibt weiterhin vor, die Lage unter Kontrolle zu haben.

Rund ein Jahr nach den Präsidentschaftswahlen hat sich in Kabul wenig geändert, und wenn, dann nicht zum Positiven. Während man sich im Westen weiterhin mit dem »ersten demokratischen Machttransfer der Geschichte« schmückt, haben die Anschläge in der als sicher geltenden Stadt zugenommen. Im ganzen Land eskaliert die Gewalt. Deutlich mehr Zivilisten wurden getötet als in den Jahren zuvor.

Ein beträchtlicher Anteil der Opfer geht nicht nur auf das Konto aufständischer Gruppierungen, sondern auf jenes der afghanischen Armee und Polizei sowie Milizen, die der Regierung treu sind. Abgesehen davon haben auch die Berichte über US-amerikanische Drohnenangriffe im Land zugenommen.

Gleichzeitig stagniert die Wirtschaft, und die Menschen sind ärmer geworden. Auf Kabuls Straßen sind noch mehr Bettler präsent. Die Prostitution hat zugenommen, ebenso Diebstähle und Überfälle. Am meisten bekommen das die Taxifahrer zu spüren. »Da steigen Leute ein, die aussehen wie ganz normale Kunden. Am Ende zücken sie eine Pistole und nehmen alles, was du hast«, erzählt Omed, der vor wenigen Tagen überfallen wurde. »In letzter Zeit passiert das oft, vor allem nachts«, fügt er hinzu.

Auch in familienfreundlicheren Vierteln wie dem Stadtteil Makroyan haben die Überfälle zugenommen. Mal wird in Wohnungen eingebrochen, mal werden Familien auf der Straße ausgeraubt. Dass die hohe Kriminalitätsrate mit der miserablen wirtschaftlichen Situation des Landes zusammenhängt, ist offensichtlich.

Von den zahlreichen Versprechungen, die von Präsident Aschraf Ghani immer wieder gemacht wurden, ist bis jetzt so gut wie nichts in die Tat umgesetzt. Deshalb wird nicht nur kritisiert, sondern auch gespottet. »Die deutlichste Veränderung ist, dass alle Bilder und Plakate Karsais mit jenen Ghanis ersetzt wurden«, so der Tenor unter vielen Bürgern. Dabei verfallen nicht wenige von ihnen in Nostalgie und meinen, dass unter Ex-Präsident Hamid Karsai alles besser gewesen sei.

Doch der Grund, warum dieser Eindruck geweckt wird, gerät dabei in den Hintergrund. Während der Mann mit der Karakul-Mütze in Kabul regiert hat, war noch das volle Kontingent der ISAF-Truppen aus dem Westen präsent. Internationale Firmen investierten in Afghanistan, und ihre Arbeiter vor Ort fühlten sich sicher. Das tat - in einigen Teilen des Landes - der Wirtschaft gut.

Gegenwärtig ist das nicht mehr der Fall. Viele sind gemeinsam mit den Soldaten abgezogen. Das spüren nun die Menschen in Städten wie Kabul.

Karsai war sich dieser Entwicklung wohl von Anfang an bewusst und hat darauf gesetzt, nicht als Buhmann in die Geschichtsbücher einzugehen. Den Amerikanern war er zuletzt kein angenehmer Partner. In den letzten Jahren seiner Amtszeit war seine Kritik Richtung Washington immer lauter geworden. Das umstrittene Bilaterale Partnerschaftsabkommen mit den USA wollte er bis zu seinem letzten Tag im Amt, ebenfalls aus persönlichem Kalkül, nicht unterzeichnen.

Nun präsentiert sich Karsai immer wieder als rechtschaffener Vater der Nation. In seinem privaten Palast unweit des Präsidentensitzes empfängt er regelmäßig Politiker, Diplomaten, Aktivisten, Journalisten oder Studenten und unterhält sich mit ihnen über Gott und die Welt - und warum er nur das Beste für sein Land erreichen wollte. Deshalb, so die Narration, wollte man ihn loswerden, entweder durch seine Abwahl oder auf anderem Wege. Personen, die Karsai nahestehen, behaupten sogar, die USA hätten einen konkreten Mordplan für den ehemaligen Präsidenten auf dem Tisch gehabt. Ob diese vermeintliche Karsai-Verschwörung der Wahrheit entspricht oder ob der einstige »Bürgermeister von Kabul«, wie er - wegen seiner Machtlosigkeit im Rest des Landes - früher scherzhaft genannt wurde, sich jetzt nur ins Rampenlicht stellen will, ist eine andere Frage.

Im Straßenbild von Kabul hat sich der ehemalige Präsident jedoch schon längst wieder seinen Platz gesichert. Neben den zahlreichen Porträts von einstigen Königen, Prinzen, Kriegsherren und Präsidenten, die überall zum Verkauf angeboten werden, findet sich immer auch das Konterfei Karsais.

Dies passt ganz zu seinen eigenen Worten. »Ich bin Geschichte«, meinte er vor Kurzem in einem Interview. Wie nicht nur Karsais Geschichte, sondern jene Afghanistans weitergehen wird, bleibt jedoch offen.

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