Sanft staatsverdrossen

Matthias Biskupek blickt als »Rentnerlehrling« auf seine ersten 65 Jahre zurück

Wie wird jemand Rentner? Durch ordnungsgemäßes Einzahlen in die entsprechende Vorsorgekasse. Durch - in diesem Zusammenhang praktisch unvermeidlich - Arbeiten, Arbeiten und nochmals Arbeiten, frei nach Lenin, um ein Einkommen zu erzielen, auf dessen Grundlage ein Kassenbeitrag berechnet werden kann, dessen Umrechnung in Punkte ein Auskommen am Lebensabend ermöglicht, bestenfalls. Man sieht: Die Sache sollte langfristig angegangen werden, der staatlich anerkannte Rentner fällt im vorgerückten Alter nicht einfach aus dem Geäst des Sozialstaats.

Das muss irgendwann auch Matthias Biskupek aufgegangen sein, weshalb er Mitte der 90er Jahre das Stichwort Rentnerlehrling notierte. Vielleicht als Ansporn, vor allem aber als Buchprojekt. Eine schöne Idee: der Mensch als ewig Lernender. Jetzt hat der vor allem im Thüringischen lebende Schriftsteller »Der Rentnerlehrling« vorgelegt, eine Lebenserzählung in 66 Kapiteln vom Ende des Werktätigendaseins her. Wenn man so will, ist Biskupek damit ein Gefährte Angela Merkels im Geiste, denn auch ihr wird ja nachgesagt, die Dinge vom Ende her zu denken.

Vom Ende her gedacht, gehört Matthias Biskupek zu jenen beneidenswerten Menschen, die ihr Leben lang das tun, was ihnen Spaß macht. Und die dafür bezahlt werden. Der Satiriker erzählt das in einem entspannten Grundton - und auch, wie er dahin gelangte. 1950 geboren, fängt Biskupek in seinen kleinen Geschichten die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts ein, dieses Halbjahrhundert der Blockkonfrontation, der Selbstbehauptung des kleinen Landes östlich der Elbe nach außen und innen. Der Vater war nach dem Krieg Neulehrer geworden, wurde ein paar Jahre später wieder aus dem Schuldienst entfernt und in den Wismut-Bergbau geschickt. Dort entdeckte ein sowjetischer Kulturoffizier die Belesenheit des Strafversetzten und trug ihm auf, ein Kulturhaus für die Kumpel aufzubauen, das natürlich den Namen Stalins tragen musste.

Bei Biskupek werden aus solchen Episoden kleine Zeitspiegel. Es ist, als blicke er mit einem großen Schwejkschen Staunen zurück. Die 66 Geschichten - manche für dieses Buch geschrieben, manche aus der gewiss nicht kleinen Schublade des Unveröffentlichten gezogen, manche schon andernorts erschienen - fügen sich zu einem keineswegs zufälligen Mosaik. Hier kann man dem Autor beim literarischen Erwachsenwerden zuschauen. Biskupek studierte nach dem Abitur Kybernetik, arbeitete in einem Chemiewerk als Systemanalytiker. Und das ist er geblieben, auch als er sich immer mehr und irgendwann vollends dem Schreiben zuwandte: ein wacher, gewitzter Autor, der die Gesellschaft und sich selbst beobachtet. Biskupek schrieb Gedichte, war ein paar Jahre am Theater, dann beim Kabarett, er arbeitete sich an Zu- und Missständen ab, immer an der unsichtbaren, aber spürbaren Grenze des ideologisch Erlaubten. Man liest das, obwohl an anderen Beispielen schon oft gehört, mit sich wiederholender Irritation: wie dieser Staat DDR seine Talente förderte und gleichzeitig beargwöhnte. Eigene Gedanken als Risikofaktor.

»Ich war sanft staatsverdrossen«, schreibt Biskupek; Dieser Ton ist typisch für seine Selbstironie. Er schenkt den alten Besserwissern nichts und ebenso wenig den neuen.

Matthias Biskupek, nd-Lesern auch als Literaturkritiker bekannt, wird an diesem Donnerstag 65 Jahre alt. Rentner ist er damit noch nicht. Inzwischen gilt die Rente mit 67; Rentenanwärter Biskupek muss in die Verlängerung. Auch als Erzähler; anders kann er gar nicht. Sehr viel Wahrheit steckt in seinem neuen Buch, nicht wenig Dichtung; man weiß nicht genau, wo das eine ins andere umschlägt. »Was ich schon alles erzählt habe«, heißt es im Prolog, »jetzt müsst ich’s bloß erleben.«

Matthias Biskupek: Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten. Mitteldeutscher Verlag, 352 S., geb., 19,95 €.

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