Rote Linien in der Flüchtlingspolitik
Die Grünen versprechen, der Regierung nicht weiter entgegenzukommen. Doch letztlich entscheiden die Länder
Bei den Grünen fühlt sich längst nicht mehr jeder mit der eigenen Parteispitze wohl. Nachdem der Vorsitzende Cem Özdemir seine Bewerbungsrede beim Hallenser Bundesparteitag am Samstag beendet hatte, wurden Fragen der Delegierten an ihn verlesen. Eine lautete: »Wie stehst du zur Grünen Jugend und warum bist du eigentlich nicht bei der CDU?« Özdemir ging locker über die indirekte Aufforderung zum Parteiwechsel hinweg und lobte den Nachwuchs für dessen »faires Ringen« in politischen Auseinandersetzungen. Seine Sympathien für Koalitionen mit der Union hatte der Parteichef zuvor geschickt als versteckte Botschaft in seiner Bewerbungsrede untergebracht. Darin lobte er die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und nannte es »unanständig«, wie die Kanzlerin beim CSU-Parteitag von Horst Seehofer behandelt worden sei. Letztlich erhielt Özdemir mit 76,9 Prozent gegen einen aussichtslosen Gegenkandidaten ein ordentliches Ergebnis.
Doch die Wiederwahl kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gerade die grüne Flüchtlingspolitik ist, die die Parteibasis erzürnt hat. »Wir haben den schlimmsten Entrechtungen von Asylbewerbern seit 1993 zugestimmt. Wie kann man da noch von einem Teilerfolg reden«, kritisierte etwa Jamila Schäfer, die Sprecherin der Grünen Jugend. Doch mit ihren Änderungsanträgen konnten sich Parteijugend und weitere linke Basisgrüne nicht durchsetzen. Sie hatten etwa gefordert, aus dem Vorstandsantrag die Passage zu streichen, dass nicht alle, die in Deutschland Asyl beantragen, auch bleiben können.
In der Flüchtlingsdebatte hatte Özdemir in einer mit viel Beifall bedachten Rede auch »reformunwillige« Muslime attackiert. Mit Blick auf Terror und Gewalt sagte er: »Ich kann es auch nicht mehr hören, wenn der ein oder andere Islamvertreter quasi ritualisiert erklärt: Das alles hat nichts mit dem Islam zu tun.«
Im Leitantrag des Vorstands stehen aber auch Haltelinien, wonach weitere Maßnahmen gegen Flüchtlinge, wie etwa eine Beschränkung des Familiennachzugs, mit den Grünen nicht zu machen sein werden. Forderungen nach Obergrenzen für Flüchtlinge auf nationaler oder europäischer Ebene erteilen die Grünen jedoch eine Absage.
Ob es im Bundesrat trotzdem erneut einen Kompromiss mit der Großen Koalition geben kann, wird von den Grünen in den Ländern abhängen. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der nicht nur der einzige grüne Regierungschef ist, sondern auch in der eigenen Partei als heimlicher Chef gilt. Bis zur Landtagswahl im März kommenden Jahres werden sich die Grünen mit Kritik an ihm zurückhalten. Auch beim Parteitag blieben Protestaktionen gegen Kretschmann aus - selbst als dieser in der Abschiebepolitik von »unangenehmen Maßnahmen« sprach, die man nun durchführen müsse. Sein grün-rot regiertes Bundesland gilt inzwischen als »Vorreiter« bei sogenannten Rückführungen.
Den Unmut in Teilen der eigenen Partei bekam neben anderen Spitzenpolitikern auch Özdemirs Ko-Chefin Simone Peter zu spüren. Ihre Gegenkandidatin, die wenig bekannte brandenburgische Kommunalpolitikerin Sonja Karas, erhielt nach ihrer Rede, in der sie sich für eine friedliche Außenpolitik und gegen die Asylrechtsverschärfungen aussprach, nicht nur viel Applaus, sondern auch immerhin 17,94 Prozent der Stimmen. Bei einigen Delegierten war von einer »Protestwahl« die Rede. Nichtsdestotrotz wurde Peter mit 68 Prozent klare Siegerin. Sie gilt als Vertreterin des linken Parteiflügels, hat es aber in den letzten Monaten kaum geschafft, in der Führung ein linkes Profil gegen die Realos um Özdemir durchzusetzen. Gerade bei den Parteilinken wird die Diskrepanz zwischen Ankündigungen und realer Politik besonders deutlich. »Wir lassen nicht zu, dass Länder wie Griechenland kaputtgespart werden«, rief Peter den Delegierten zu. Dabei unterstützt die Ökopartei die Austeritätspolitik von Angela Merkel bislang mit einer größeren Geschlossenheit als die SPD.
Neben den Wahlen zum Vorstand und den Antragsberatungen war der Parteitag in Halle auch ein Schaulaufen der Bewerber für die zwei Spitzenkandidatenposten für die Bundestagswahl 2017. Für die Urwahl sind bislang die Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt sowie der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck die einzigen prominenten Anwärter. Dass Özdemir nach seiner Wiederwahl zum Parteichef ebenfalls bald seine Ambitionen ankündigen wird, ist durchaus möglich. Wenn die Bundestagswahl erfolgreich verlaufen sollte und die Grünen nach langer Zeit wieder im Bund mitregieren würden, hätten die Spitzenkandidaten beste Aussichten auf Ministerposten. Kleine Niederlagen musste Habeck beim Parteitag hinnehmen. Er scheiterte in einem mit anderen Realos verfassten Antrag, der sich aus Kostengründen gegen das Vorhaben des Parteivorstands richtete, das Elterngeld um zehn Monate auf bis zu 24 Monate zu verlängern. Stattdessen solle mehr Geld in das Betreuungsangebot gesteckt werden. Auch halten die Grünen an ihrem Ziel fest, die Stromversorgung in Deutschland bis 2030 nahezu komplett auf erneuerbare Energien umzustellen. Kurz vor dem UN-Klimagipfel in Paris forderte der Parteitag, Deutschland müsse sich wieder an die Spitze des internationalen Klimaschutzes stellen. Forderungen, von dem 100-Prozent-Ziel beim Strom abzurücken, setzten sich nicht durch. Dafür hatte sich Habeck eingesetzt.
In den nächsten Monaten dürften jedoch andere Themen dringlicher sein. Nach den Terroranschlägen von Paris sprachen sich die Grünen für eine politische Lösung in Syrien aus. Doch sie betonten auch die »europäische Solidarität« und schlossen den Einsatz deutscher Soldaten gegen die Terrororganisation »Islamischer Staat« nicht aus. Dies bekräftigten Realos wie Linke aus der Bundestagsfraktion.
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