»Jahrelang war Moskau unser Rom«

Die Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas. Teil VIII der Serie über die DDR im Jahr 1976

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 8 Min.
Das ZDF sprach von einer für solche Gipfel »nahezu einmalige« Öffentlichkeit: Im Juni 1976 tagten in Berlin die kommunistischen und Arbeiterparteien Europas. Streitpunkt wurde: der Eurokommunismus.

Aus Sicht der SED-Führung sollte die Veranstaltung »ganz im Zeichen der internationalen Verantwortung« stehen; um den Frieden in Europa, den Fortschritt und die Erfüllung der historischen Mission der Arbeiterklasse im weltweiten Kampf gegen den Imperialismus. An jenem Dienstag, dem 29. Juni 1976, eröffnete SED-Generalsekretär Honecker um 9 Uhr die Konferenz im Tagungssaal des Hotels »Stadt Berlin«. Mit der ihm eigenen, hin und wieder gebrochenen Stimme, rief er: »Liebe Genossinnen und Genossen! Im Namen des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, im Namen der Kommunisten und des Volkes der Deutschen Demokratischen Republik begrüße ich alle Delegationen der Bruderparteien sehr herzlich.«

Delegationen von 29 kommunistischen Parteien waren zugegen und beanspruchten, für mehr als 29 Millionen Mitglieder zu sprechen. An einem großen Rechteck saßen insgesamt 112 Delegierte, unter ihnen die Partei- und Staatschefs aus den Warschauer-Vertrags-Staaten, aber auch der Jugoslawe Josip Broz Tito, der Italiener Enrico Belinguer und andere westeuropäische KP-Chefs. Über 500 Journalisten aus aller Welt hatten sich akkreditieren lassen, um der Eröffnungssitzung beiwohnen zu dürfen, durch eine Direktübertragung in ein eigens eingerichtetes Pressezentrum - wie das ZDF damals vermerkte, eine »für kommunistische Gipfelkonferenzen nahezu einmalige Herstellung der Öffentlichkeit«.

Karsten Krampitz

Die Serie will sich in einer multiperspektivischen Sichtweise auf die DDR versuchen: Staat und Gesellschaft sollen nicht gleichgesetzt, nicht verklärt und schon gar nicht dämonisiert werden. Am Beispiel eines einzigen Jahres – 1976 – soll vom Leben und Alltag in diesem Land berichtet werden.

Der Übergang von Ulbricht zu Honecker war mehr als ein Personenwechsel. Nicht wenige Künstler und Intellektuelle empfanden sogar so etwas wie eine Aufbruchstimmung. Ein Aufbruch, der jedoch spätestens 1976 umschlug in Verbitterung und Resignation. In der Literatur und Publizistik wie auch in der Forschung zur DDR-Geschichte wurde diesem Jahr bislang immer nur soweit Beachtung geschenkt, als dass es sich um den Zeitraum der Biermann-Ausbürgerung handelte. 1976 war aber auch das Jahr, in dem Michael Gartenschläger an der Grenze erschossen wurde; in Zeitz übergoss sich Pfarrer Brüsewitz mit Benzin und zündete sich an; der IX. Parteitag der SED beschloss ein neues Programm und Statut; Honecker wurde Staatsratsvorsitzender, der Palast der Republik wurde eröffnet, die DDR wurde Fußballolympiasieger etc. Und immerhin 15 168 Bürgerinnen und Bürger verließen das Land in Richtung Westen. Die Republik befand sich in einer schweren Krise.

Karsten Krampitz’ Buch zur Serie »1976« erscheint im Februar im Berliner Verbrecher Verlag. Diskussionsveranstaltungen (unter anderem in Berlin) sind in Planung, die Termine werden rechtzeitig bekannt gegeben. Krampitz wurde 1969 in Rüdersdorf bei Berlin geboren. Er hat Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften studiert und über »Das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR infolge der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976« promoviert. In Klagenfurt wurde er 2009 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Er arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Publizist.

Nächste Woche: Der Tod eines italienischen Kommunisten

Eben diese ungewohnte Offenheit war das Neue, das Spannende an diesem Ereignis. »Neues Deutschland« überraschte in jenen Tagen seine Leser mit einer Lektüre, die, zumindest in der DDR-Zeit, nie wieder so interessant sein sollte. Das Zentralorgan druckte tatsächlich - Wort für Wort! - die Reden der eurokommunistischen Parteiführer. »So trauten wir denn unseren Augen kaum«, erinnerte sich später Wolf Biermann, »als wir plötzlich im amtlichen Lügenblatt unserer Obrigkeit peinlichste Wahrheiten aus dem Munde von Enrico Berlinguer und PCE-Chef Carrillo lasen.« Und weiter: »Solche Ketzerworte kosteten plötzlich 15 DDR-Pfennig statt den Hals.«

Der spanische KP-Chef Santiago Carrillo war, wie der RIAS später kommentierte, der »wahrscheinlich prägnanteste Redner« auf dieser Tagung. Karl Wilhelm Fricke, DDR-Experte beim Deutschlandfunk, ergänzte: »Schließlich zählt er (Carrillo) zu den Wortführern eines Sozialismusmodells, das sich von den Vorstellungen Alexander Dubceks nicht sonderlich unterscheidet.« Der spanische KP-Generalsekretär verglich allen Ernstes - in Anwesenheit Breschnews! - die kommunistische Bewegung mit dem frühen Christentum: »Wir wurden eine Art neue Kirche mit unseren Märtyrern und Propheten. Jahrelang war Moskau, wo unsere Träume begannen, Wirklichkeit zu werden, unser Rom. Wir sprachen von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, als wäre sie unsere Weihnacht.«

»Unqualifizierte Ausfälle«

Auf Seiten der SED war man gezwungen, Carrillos Rede ungekürzt im ND zu veröffentlichen. Ein Wortbruch in dieser Hinsicht wäre umgehend von den anwesenden Westjournalisten aufgegriffen worden. In einer ausführlichen internen Einschätzung, angefertigt von Mitarbeitern des Zentralkomitees der SED, hieß es jetzt: »In der Rede fehlt im Wesentlichen ein klassenmäßiges, kommunistisches Herangehen an die internationale Entwicklung, insbesondere an den Imperialismus und den Sozialismus.«

Insbesondere eine Formulierung muss die Gastgeber der Konferenz verletzt haben. Ein Dossier aus dem SED-Zentralkomitee berichtet über »unqualifizierte Ausfälle S. Carrillos gegen den ›Dogmatismus‹«. Gemeint war dessen Aussage, es sei notwendig, dass »auf jegliche Form von Intrigen verzichtet wird. (…) Die Differenzen werden uns zu keiner Spaltung führen, sofern keiner seine eigenen Konzeptionen zum Dogma erhebt.«

Der Eurokommunismus

Einen Monat nach der Berliner Konferenz hielt Carrillo im römischen Exil eine Rede auf dem ZK-Plenum der KP Spaniens. Die Worte, die er an die eigenen Funktionäre richtete, erscheinen uns heute deutlicher. In dieser Runde musste er keine Rücksicht nehmen, weder auf angereiste Journalisten noch auf orthodoxe Generalsekretäre in den sogenannten Bruderparteien.

Santiago Carrillo war der Meinung, dass sich beim Treffen die Haltung seiner KP durchgesetzt hatte. Eine Tendenz, die seit einiger Zeit als »Eurokommunismus« bezeichnet wurde und für die kommunistischen Massenparteien in den entwickelten kapitalistischen Ländern galt. Die Merkmale dieser Tendenz waren Carrillo zufolge erstens die Entscheidung für einen demokratischen Weg zum Sozialismus, zweitens ein Verständnis vom Sozialismus als Übergang vom kapitalistischen zum gesellschaftlichen Eigentum mit einem politischen, demokratischen und pluralistischen System, das die bis dahin erreichten persönlichen und kollektiven Freiheiten erhält und vertieft und in dem die Stimme des Bürgers die Wahl oder Ersetzung der Machtorgane auf allen Ebenen entscheidet und drittens die Unabhängigkeit jeder kommunistischen Partei, jedes Volkes, jedes Landes, um frei über seinen Weg und sein Modell des Sozialismus zu entscheiden.

Dass es in Fragen des demokratischen Sozialismus mit der Betonfraktion in Osteuropa, angeführt von Leonid I. Breschnew, keine Verständigung geben konnte, stand schon vor der Konferenz außer Frage. Das Erstaunliche aber an der Haltung der spanischen KP: Niemand wusste damals, wie weit die Partei noch von der Legalisierung entfernt war, geschweige denn von tatsächlicher politischer Teilhabe an den Geschicken ihres Landes. Dennoch fühlten sich die spanischen Kommunisten den osteuropäischen Apparateparteien turmhoch überlegen.

In der Exilpresse der spanischen KP war von einem »demokratischen Weg zu Sozialismus« zu lesen, unter Wahrung der Menschenrechte, des Pluralismus der Parteien und der Anerkennung eines Machtwechsels, »wenn das Volk diesen Willen in allgemeinen Wahlen zum Ausdruck bringt«. Man trete für einen Sozialismus ein, der die Glaubensfreiheit und Ausübung der Religion, die Rede und Versammlungsfreiheit, die wissenschaftliche, literarische und künstlerische Freiheit und das Streikrecht auf das Genauste achtet und für einen Staat, der keine offizielle Ideologie vertritt. Die Parteizeitung »Mundo Obrero« schrieb: »Diese Auffassung, die in Berlin nicht nur von uns, sondern auch von den Italienern und Franzosen nachdrücklich unterstrichen wurde, und eine deutliche Unterstützung von den Engländern und Schweden erfuhr, unterscheidet sich offenkundig von der Art des totalitären Sozialismus, wie er in den sozialistischen Ländern Osteuropas existiert, eines Sozialismus, der unter historischen Bedingungen entstand, die sich von den gegenwärtigen völlig unterscheiden.«

Berlinguer vs. Breschnew

Auf der gleichen Linie wie die spanischen Kommunisten bewegte sich die Partito Comunista Italiano. Dank des sensationellen Wahlsiegs der italienischen Kommunisten, die Wochen zuvor bei der Parlamentswahl über 34 Prozent der Stimmen erreichten, kam der Rede ihres Parteichefs eine ganz andere Bedeutung zu. Der westdeutsche Journalist Hansjakob Stehle, der zur Konferenz gemeinsam mit der italienischen KP-Delegation von Rom nach Ostberlin geflogen war, berichtete tags zuvor: »Die Italiener sind entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen. (…) Die Italiener meinen, es müsse einen Pluralismus, eine Art von Liberalismus auch in der kommunistischen Bewegung herrschen.« Berlinguer werde das auch morgen in seiner Rede vor der Konferenz zu erkennen geben.

Und so geschah es dann auch am zweiten Konferenztag; Enrico Berlinguer fand sachliche, aber deutliche Worte: In Italien sei die kommunistische Partei die Hauptkraft im Kampf um die Verteidigung und die Entwicklung der Demokratie. Man kämpfe für eine sozialistische Gesellschaft, »die sich gründet auf die Bekräftigung des Wertes der persönlichen und kollektiven Freiheiten und ihrer Garantie; der Prinzipien des weltlichen, nicht ideologischen Charakters des Staates und seiner demokratischen Artikulierung, der Pluralität der Parteien und der Möglichkeit, sich entsprechend den Mehrheitsverhältnissen in der Regierung abzuwechseln, der Autonomie der Gewerkschaften, der religiösen Freiheiten, der Freiheit des Ausdrucks, der Kultur, der Kunst und der Wissenschaften.« Berlinguer sprach dann auch die Niederschlagung des Prager Frühlings an: »Alle wissen zum Beispiel, dass wir italienischen Kommunisten zwar stets die großen Errungenschaften der sozialistischen Länder betont haben, aber auch mehrmals kritische Urteile abgaben, entweder über bestimmte Ereignisse und Situationen (wie zum Beispiel in der Tschechoslowakei) oder über allgemeinere Probleme hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Demokratie und Sozialismus in verschiedenen sozialistischen Ländern.«

Anfang vom Ende

Die große Tragik der Eurokommunisten: Im Jahr 1976 verfügten sie über kein eigenes Projekt, dessen Strahlkraft sie in die Lage versetzt hätte, sich von Moskau tatsächlich zu emanzipieren und glaubwürdig für den Einklang von Sozialismus und Demokratie zu werben. Dubceks Tschechoslowakei hätte ein solches Projekt werden können. In einem Interview sagte Rudi Dutschke einmal: »Im Rückblick war das entscheidende Ereignis des Jahres 1968 in Europa nicht Paris, sondern Prag. Damals waren wir unfähig, dies zu sehen.«

In einer Zeit als der Imperialismus am schwächsten auftrat - der weltweite Protest gegen den Vietnamkrieg hatte Millionen junger Menschen auf die Straße gebracht und für eine sozialistische Utopie begeistert, die Gewerkschaften in den Industrieländern standen im Zenit ihres politischen Einflusses, sogar die europäische Sozialdemokratie unter Willy Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palme hatte sich deutlich nach links bewegt, kamen Breschnew und die kommunistischen Parteien des Ostens den Kommunisten aus Italien, Spanien und Frankreich politisch nicht einen Meter entgegen. Das auf der Konferenz verabschiedete Dokument »Für Frieden, Sicherheit, Zusammenarbeit und sozialen Fortschritt in Europa«, mit Worthülsen bestückt, hatte für die Linke in Westeuropa keinerlei Bedeutung.

Man könnte sagen: Im Juni 1976 zeigte Walter Benjamins »Engel der Geschichte« in Ostberlin auf der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien sein trauriges Antlitz: »Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.«

Dem großen Gipfeltreffen folgte der lange Abstieg. Was wie ein Aufbruch der Reformkommunisten in Westeuropa aussah, ließ schon bald den Beginn ihres Niedergangs folgen. Zunächst scheiterte in Italien der Versuch einer Koalitionsregierung aus Eurokommunisten und Christdemokraten; KP-Chef Berlinguer sollte bis zu seinem Amtsende 1984 nie wieder auch nur in die Nähe einer Regierungsverantwortung gelangen. Die einst so mächtigen kommunistischen Parteien in Italien, Frankreich und Spanien verloren mit jeder Wahl an Zustimmung. Die Zahl ihrer Mandate in den Parlamenten schmolz bis zum Ende der 80er Jahre dahin und damit auch jegliche Perspektive, über Wahlen das kapitalistische System zu überwinden.

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