»Zum Wohle der Menschheit«

1946 war die Geburtsstunde der Atomenergiekommission: »Neues Deutschland« lieferte die publizistische Begleitmusik zur Entwicklung der Kernkraft in der DDR. Von Reimar Paul

  • Reimar Paul
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Der 24. Januar 1946 ist ein Donnerstag. Unter dem Eindruck des Kriegsendes und der verheerenden Folgen zweier Atombomben, die über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden und Hunderttausende Tote hinterließen, beschließt die Vollversammlung der sieben Monate zuvor gegründeten Vereinten Nationen (UNO) in London die Einrichtung einer Atomenergiekommission. Die AEC - Vorläufer der Internationalen Atomenergieorganisation IAEA - soll beratend an Maßnahmen zur Kontrolle der Kernkraftnutzung mitwirken. Ihr gehören Vertreter der elf im UNO-Sicherheitsrat vertretenen Staaten sowie ein Delegierter Kanadas an.

Das Datum markiert gemeinhin den Beginn der sogenannten »friedlichen« Nutzung der Atomenergie. Neben dem Ausbau ihrer Atomwaffenarsenale entwickelten zunächst die USA unter dem Kampagnennamen »Atoms for Peace« Programme zur Stromerzeugung aus Kernspaltung. Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion zogen nach. In den beiden deutschen Staaten, die erst Mitte der 1950er Jahre volle Souveränität über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten erlangten, begann der Prozess mit einiger Verspätung.

Ebenso wie die Regierenden in der BRD vertrat auch die politische Führung der DDR ohne jeden erkennbaren Zweifel die Ansicht, dass die Kernkraft alle Energieprobleme lösen und die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben werde. Während in der Bonner Republik die Energieunternehmen von der Regierung mit Milliarden-Subventionen regelrecht zum Bau der ersten Atomkraftwerke genötigt werden mussten, gab in Ostberlin die SED die nukleare Linie vor und setzte sie gleichzeitig um. Das »Neue Deutschland« begleitete sie publizistisch.

In einer Erklärung vom 25. März 1954 gestand die UdSSR der DDR die volle Souveränität zu. Dass die drei Westmächte zwei Wochen später kundtaten, dass sie auch »weiterhin die Sowjetunion als die verantwortliche Macht für die sowjetische Zone Deutschlands betrachten« und damit der Doktrin der Nichtanerkennung der DDR durch die Regierung der BRD folgten, sei hier nur am Rande erwähnt.

Es war ein für die weitere Entwicklung der Kernkraft wegweisender, ja programmatischer Text: Am 18. September 1955 veröffentlicht »ND« an prominenter Stelle unter der Überschrift »Atomenergie auch für die DDR« eine Rede von Professor Wilhelm Macke, die er am selben Tag vor dem Senat der Technischen Hochschule Dresden hält. Macke hat dort das Institut für Theoretische Physik mitbegründet. In der Rede berichtet er über eine internationale Konferenz von Atomwissenschaftlern in Genf, an der er als Delegierter der DDR teilgenommen hat.

Macke vergleicht die Atomenergie mit der »Erfindung der Dampfmaschine« und spricht von einer »Revolution der Technik«. Diese liege »nicht in ferner Zukunft; sie steht nicht in den Sternen, sondern wir befinden uns mitten im Umbruch«. Ähnlich wie seinerzeit viele BRD-Wissenschaftler preist Macke die Kernspaltung als quasi unerschöpfliche Energiequelle: Alleine die bekannten Vorkommen an Uran und Thorium könnten »15 bis 30 Mal so viel Energie liefern wie alle Kohlenvorräte der Erde zusammen«.

Sicherheitsprobleme? Ja, doch, die gebe es, räumt Macke ein. Doch sei er überzeugt, »dass man mit Umsicht und Vernunft alle Schädigungen (…) vermeiden kann, auch wenn gegenwärtig noch kein ›idiotensicheres‹ Sicherungssystem existiert«. »Wir müssen unter Aufbietung aller Kräfte eine eigene Entwicklung auf diesem Gebiet in der DDR ins Leben rufen«, verlangt Macke. Und: »Es müssen umfangreiche Maßnahmen zur Ausbildung von Kerntechnikern getroffen werden.« Dazu bedürfe es einer eigenen Fakultät für Kerntechnik. Diese wird wenige Monate später in Dresden eingerichtet, Macke wird ihr Dekan.

Ein zweites Forschungsstandbein, das »Zentralinstitut für Kernphysik«, entsteht 1956 im nahen Rossendorf. Am 16. Dezember 1957 wird dort in Anwesenheit hoher SED-Prominenz und mit freundlicher publizistischer Umrahmung durch das »ND« ein kleiner Forschungsreaktor eingeweiht. Die Wissenschaftler nutzen ihn hauptsächlich als Neutronenquelle für die Herstellung von Radioisotopen und die Materialforschung. Erst am 27. Juni 1991 - nach mehr als 100 000 Betriebsstunden - wird der Forschungsreaktor abgeschaltet.

Bis 1966 noch dauert es nach der Grundsteinlegung 1960, bis mit dem auf einer Landenge zwischen dem Nehmitzsee und dem Großen Stechlinsee errichteten AKW Rheinsberg der erste Leistungsreaktor Strom erzeugt. »Um 13 Uhr ertönt ein Sirenensignal«, reportierte das »ND« am 10. Mai 1966. »Unter dem Beifall seiner deutschen und sowjetischen Erbauer geht das erste Atomkraftwerk der DDR in Betrieb.« Die Titelgeschichte und eine Seite 3 widmet das Blatt dem freudigen Ereignis.

Dass das Kraftwerk nur 70 Megawatt erzeugte - gerade genug, um eine Stadt von der Größe Potsdams mit Energie zu versorgen -, tat dem Jubel von Parteioberen und Zentralorgan keinen Abbruch. Erreicht sei nichts weniger als »ein Meilenstein auf dem Wege der progressiven Entwicklung unserer Volkswirtschaft und Ausdruck der Zielstrebigkeit von Partei und Regierung, den technischen Fortschritt für den gesellschaftlichen Fortschritt, für das Glück des Volkes zu nutzen«, zitiert »ND« das Politbüro-Mitglied und den Ministerrats-Vizevorsitzenden Alfred Neumann. Der nennt das Atomkraftwerk, dessen wesentliche Komponenten einschließlich (Fach-)Arbeitskraft von der UdSSR geliefert wurden, »ein gutes Beispiel sozialistischer Schöpferkraft und brüderlicher Zusammenarbeit zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Volk«.

Der Minister für Grundstoffindustrie, Klaus Siebold, ergänzt: »Mit dem Bau und der Inbetriebnahme des ersten Atomkraftwerkes der DDR entsprechen wir der im Zuge der technischen Revolution notwendigen Entwicklung unserer Volkswirtschaft, wie sie auf dem VI. Parteitag skizziert und in den verschiedenen Plenartagungen herausgearbeitet wurde. Die Inbetriebnahme des ersten Atomkraftwerkes (…) zeigt die Leistungsstärke unseres Arbeiter- und-Bauern-Staates und dokumentiert, dass die Regierung der DDR erfolgreich alle Anstrengungen unternimmt, die neuesten Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik zum Wohle der Menschheit nutzbar zu machen.« Eine Abbildung des Rheinsberger Reaktor-Leitstandes ziert später die Rückseite des 10-Mark-Scheins der DDR.

Als knapp acht weitere Jahre später der erste mit einem 440-Megawatt-Druckwasserreaktor sowjetischer Bauart ausgestattete Block 1 des Kernkraftwerks »Bruno Leuschner« am Greifswalder Bodden mit dem Stromnetz verbunden wird, hat die nukleare Euphorie in der DDR ihren Höhepunkt erreicht. »Begeisterndes Kampfmeeting der internationalen Erbauerkollektive«, überschrieb »ND« seinen Bericht am 18. Dezember 1973. »Auf einer machtvollen Kundgebung in einer der großen Werkhallen überbrachte Willi Stoph den Erbauern und dem Betriebspersonal die Grüße und Glückwünsche des Zentralkomitees und seines Ersten Sekretärs, Genossen Erich Honecker. (…) Mit Sträußen roter Nelken empfangen junge Kernkraftwerkserbauer ihren Besuch. Ein dichtes Spalier der Bauleute nimmt die Gäste auf.« Und Jugendbrigadier Adolf Degenhard sagt: »Wir sind voller Freude und Stolz, dass wir das Versprechen, welches wir der Partei- und Staatsführung und dem Ersten Sekretär des ZK, Genossen Erich Honecker, anlässlich der Ostseewoche 1972 gaben, mit Erfolg abrechnen konnten.«

»Das Kernkraftwerk ›Bruno Leuschner‹ wurde so projektiert und wird so betrieben, dass auch außergewöhnliche Ereignisse sicher beherrscht werden können«, zitierte »ND« in der Folge Experten des »Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz« der DDR. Tatsächlich gleicht die Geschichte der vier bis 1979 sukzessive in Betrieb genommenen Reaktorblöcke, die zeitweise bis zu zehn Prozent des DDR-Strombedarfs deckten, einer Chronik des Schreckens. Es gab etliche schwere Störfalle und fortwährende Verstöße gegen den Strahlenschutz. 1975 hatte ein Brand in einem Maschinenraum fast zu einem GAU geführt - fünf von sechs Kühlmittelpumpen versagten, die sechste war zufällig an den Stromkreis eines Nachbarreaktors angeschlossen und sicherte eine notdürftige Kühlung des Reaktorkerns.

Das Ende der DDR brachte auch das Ende der ostdeutschen Kernkraft mit sich. Vorgeblich aus Sicherheitsbedenken wurden die AKW bei Rheinsberg und Greifswald 1990 abgeschaltet. Der Abriss der Meiler ist noch nicht abgeschlossen, er wird mehrere Milliarden Euro kosten.

Auf der größten Baustelle der DDR, bei Arneburg an der Elbe, arbeiteten 1990 mehr als 7000 Menschen, unter ihnen 5000 Ausländer. Sie sollten das leistungsstärkste Atomkraftwerk der Republik errichten. Der erste von insgesamt vier geplanten 1000-Megawatt-Blöcken, so die Planvorgabe, sollte Ende 1991 ans Netz gehen. Nach Abschluss aller Bauarbeiten 1996 hätte das AKW stolze 4000 Megawatt Gesamtleistung gehabt und wäre damit das leistungsstärkste in Deutschland gewesen. Doch es kam anders. 1991 wurden die Bauarbeiten eingestellt.

Reimar Paul, Jahrgang 1955, ist freier Autor und schreibt seit langem über Umweltthemen und Atomkraft für »nd«.

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