Gefangen zwischen zwei Systemen

Der Sport zwang die Ukraine zu einem Spiel gegen Kosovo, die Politik verlegte es nach Polen

  • Thilo Neumann
  • Lesedauer: 4 Min.

Sonntagabend, 18 Uhr: Mit ernsten Mienen schreiten die Spieler der ukrainischen Nationalmannschaft auf den Rasen des Jozef-Pilsudski-Stadions von Krakow. In den blauen Auswärtstrikots reihen sie sich auf und lauschen ihrer Nationalhymne, die sich scheppernd aus den Lautsprechern quält. »2018 FIFA World Cup Qualifiers« steht auf einer Werbebande; es geht um viel in der dritten Partie der Qualifikationsgruppe I - hier in Polen, beim Heimspiel in der Fremde. Die Mannschaft vom ehemaligen Weltklassestürmer und jetzigem Nationaltrainer Andrij Schew-tschenko agiert in Krakow als Gastgeber - freiwillig.

Nicht die Sicherheitslage im Osten des Landes, noch mögliche Sanktionen durch den Weltverband hindern die Ukraine daran, die Begegnung in Kiew, Charkiw oder Lwiw auszutragen. Wohl aber der Gegner, ein Fußballzwerg: Kosovo, Nummer 168 der FIFA-Weltrangliste. Ginge es nach den Ukrainern, dürfte es diese Partie gar nicht geben. Zumindest nicht in einem offiziellen Länderspiel.

Die Ukraine hat Kosovo bis heute nicht als unabhängigen Staat anerkannt, sondern sieht es weiterhin als Teil Serbiens. Folglich werden keine Repräsentanten der Balkan-Republik auf ukrainischem Boden empfangen, auch nicht die Delegation des kosovarischen Fußballverbandes. Dieser war aber im Mai von der UEFA mit 28:24-Stimmen in die europäische Fußballfamilie aufgenommen worden - unter heftigem Protest Serbiens und ohne Zustimmung der Ukrainer. Wenig später wurde Kosovo auch als FIFA-Mitglied bestätigt. Der nächste Schritt: die Eingliederung in eine der damals bereits feststehenden WM-Qualifikationsgruppen. Der Weltverband entschied sich für Gruppe I, mit der Ukraine.

Das brachte die ukrainischen Fußballfunktionäre in Bedrängnis. Gefangen zwischen sportlichem Zwang und politischem Willen begab sich der Verband auf die Suche nach einer Lösung - und fand sie in Krakow. So wurde in der zweitgrößten Stadt Polens am Sonntagabend Geschichte geschrieben: Zum ersten Mal verzichtete ein europäischer Verband in einem Pflichtspiel aus politischen Gründen auf sein Heimrecht.

Die polnischen Sicherheitsbehörden reagierten allerdings skeptisch auf die unverhoffte Sonntagabendunterhaltung. Die Befürchtung: Ukrainische Hooligans könnten zusammen mit Anhängern von Cracovia - der Erstligist, der sonst in diesem Stadion spielt - gegen Kosovos Sprung auf die große Fußballbühne protestieren, im Zweifel gewaltsam. Es könne zu Ausbrüchen von »aggressivem Nationalismus« kommen, warnte FARE, eine Anti-Rassismus-Netzwerk von Fußballfans. Aus Sorge vor Ausschreitungen wurde der Zutritt zum Stadion rigide begrenzt, auf 999 Tickets. Viele Ukrainer, ohne Karte und mit einer Billigairline aus Kiew eingeflogen, gingen leer aus.

Die, die draußen bleiben müssen, verpassen ein munteres Spiel mit Vorteilen für die »Heimelf« und ohne Zwischenfälle auf den Rängen. Die Kosovaren kämpfen aufopferungsvoll, gehen aber nach einer halben Stunde in Rückstand, ein Schuss des Ex-Stuttgarters Artem Kravets wird unhaltbar abgefälscht. Kurz vor dem zweiten Treffer durch Andrij Yarmolenko (81.) vergibt der Kosovare Bernhard Berisha die größte Chance zum Ausgleich, als er aus sechs Metern an der Latte scheitert. Nach dem dritten Gegentor durch Ruslan Rotan (87.) schleichen die Gäste enttäuscht in die Kabine, während die Ukrainer ihren Erfolg feiern.

Es sei ein »normales Fußballspiel« gewesen, sagte Andrij Schewtschenko nach dem 3:0, seinem ersten Pflichtspielsieg als Nationaltrainer. Und auch die Kosovaren übten sich nach der Niederlage in Zurückhaltung. »Politik ist was für Politiker, wir sind Sportler«, sagte der Deutsch-Kosovare Fanol Perdedaj von 1860 München. Sein junges Team habe Lehrgeld gezahlt und müsse daraus lernen, schon im Hinblick auf das nächste schwere Spiel, Mitte November in der Türkei. Ob diese Partie angepfiffen wird, ist aber noch offen: Der serbische Verband geht derzeit vor dem internationalen Sportgerichtshof CAS gegen die Aufnahme Kosovos in die Fußballfamilie vor; für den 31. Oktober ist eine Anhörung angesetzt. Scheitert Serbien, darf sich die Ukraine weiter über die drei wichtigen Punkte von Krakow freuen. Vielleicht verhelfen diese zur Teilnahme an der Endrunde 2018 in Russland - einem Land, das seit zwei Jahren in einem bewaffneten Konflikt mit der Ukraine steckt.

Und Kosovo? Die Nationalelf muss nach einem Unentschieden und zwei Niederlagen den Traum von Russland vermutlich bereits begraben. Für die FIFA bedeutet das eine Sorge weniger - schließlich würde es bei einer Endrundenqualifikation Kosovos zum nächsten Sonderfall kommen. Denn auch WM-Gastgeber Russland verwehrt der Balkan-Republik bislang die Anerkennung.

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