Geduldet und gedeckelt

Über Rassismus und Neonazis in der alten BRD, der DDR und heute.

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 8 Min.

Zur Zeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom ›homogenen Volk‹, von einer ›wahren‹ Religion, einer ›ursprünglichen‹ Tradition, einer ›natürlichen‹ Familie und einer ›authentischen‹ Nation«. So lautet die Momentaufnahme der Publizistin Carolin Emcke in ihrer Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Befeuert werde diese Entwicklung auch in Deutschland durch Rassismus, Fanatismus und Demokratiefeindlichkeit: »Gegen den Hass« ist der Titel ihres aktuellen Buches.

Ein solcher kollektiver Hass schien zumindest in der alten BRD zeitweilig der Vergangenheit anzugehören. Dazu in einem Interview jüngst angesprochen sagte Frau Emcke: »Ich jedenfalls hätte es in meiner Lebzeit nicht für möglich gehalten, dass jemals öffentlich so entgrenzt gehasst werden könnte.« Das klingt nach neuer Qualität.

Nachfolgend ein paar Kostproben aus dem bundesdeutschen Sudelbuch: »Frech, aufsässig, arrogant« sind diese Ausländer, schreibt da ein Bürger an das hessische Innenministerium, Menschen »niedrigster Sorte«. Sie wollen, so ein anderer, »nur schnorren und nichts tun«. Wieso die Deutschen »verpflichtet« sind, fragt ein Anonymus beim Bundesinnenminister an, »all den Dreck zu ernähren«. »Damit«, weiß wieder ein anderer schon Antwort, »diese Wilden jeden Tag auf unsere Kosten Weihnachten feiern können«. Eine Frau Doktor mahnt in einer überregionalen Zeitung: »Jeder Ausländer verändert unsere Eigenart.« In einer anderen heißt es im Leserbriefteil, dass wohl »Westeuropa demnächst im Chaos versinken« und »das Ende des abendländischen Kulturraums« eingeläutet werde. Es häufen sich Berichte, dass in A. eine »Bürgerinitiative zur Abwehr asiatischer Einwanderung und anderer Überfremdung« gebildet worden sei, in B. eine »Volksbewegung gegen Überfremdung«, in C. die »Aktion Deutschland für Deutsche«. Ihrem Unmut über »Scheinasylanten« und »Wirtschaftsflüchtlinge« machen vermehrt selbst Staatsdiener öffentlich Luft. Mit den gleichen Schlagworten greifen rassistische Straßenkämpfer fast täglich Ausländer und deren Unterstützer an, werden Flüchtlingsunterkünfte mit Brandsätzen attackiert. Die Emnid-Frage von August, ob man Flüchtlingen politisches Asyl nicht besser nur noch in Ausnahmefällen gewähren solle, bejahten 44 Prozent. Dabei hatten nicht Ältere den höchsten »Ja«-Anteil, sondern mit 46 Prozent die 20- bis 29-Jährigen.

Das sind lediglich minimale Auszüge aus einer kommentierten Dokumentation. Eigentlich klingen sie kaum sensationell, denn an die Fakten ist man hierzulande gewöhnt. Allerdings veröffentlichte der »Spiegel« diese Titelgeschichte bereits vor 36 Jahren!

Kaum zu fassen, aber wahr. Und dabei hinkte das Hamburger Blatt in seinem Heft 38/1980 der aktuellen Entwicklung noch weit hinterher. Bereits am 22. August des Jahres nämlich verbrannten quasi vor seiner Haustür, im Stadtteil Billbrook, zwei vietnamesische »Boat People«-Flüchtlinge, der 22-jährige Nguyen Ngoc Chau und der 18-jährige Do Anh Lan nach einem rassistischen Brandanschlag auf ihre Sammelunterkunft. Ein bleibendes Gedenken daran findet übrigens im offiziellen Hamburg wenig Freunde. Erst unlängst wurde Antifa-Aktivisten, die eine Straßenbenennung (in Chau-Lan-Straße) vorschlugen, ablehnend beschieden: Straßennamen müssten »möglichst kurz, einprägsam und wohlklingend« sein.

Kommt die Rede auf Rassismus in der alten Bundesrepublik, wird mitunter schnell darauf verwiesen: auf die massenhaft von Nazis durchsetzten Nachkriegseliten, auf die bis in die 1960er Jahre (Stichwort »Auschwitzprozess«) so gut wie ausgebliebene strafrechtliche Verfolgung von Nazi-Verbrechen, auf die Riesenflut von Publikationen offen agierender rassistischer und neonazistischer Organisationen und Gruppierungen.

Dies alles gab es im zweiten deutschen Staat, in der realsozialistischen DDR, zwar nicht, aber dennoch gab es auch dort Rassismus und Neonazis, Rechtsextremismus und Nationalismus. Und nicht zu knapp, nur eben nicht offiziell. Verwendet wurden dafür meist die Begriffe »Neofaschisten« oder »Skinheads«, »Hooligans« oder »Republikfeinde«. Solche »negativen, republikfeindlichen Erscheinungen« waren Geheimsache. Es gab nur verschwindend wenige Veröffentlichungen zum Thema (unter anderem in »Das Magazin«, »Die Weltbühne«, Gerichtskurzberichte vor allem in der Regionalpresse oder in »Junge Welt«). Und wenn es dabei einmal um die Ursachen ging, wurde fast immer der Einfluss von Westfernsehen und -radio bemüht.

Die MfS-Aktenhinterlassenschaften relativieren diese Annahme jedoch erheblich. Es gab offenbar weit mehr und auch tiefer liegende Gründe (siehe nebenstehenden Artikel). Doch bleiben wir erst mal bei den Fakten der entsprechenden Szene in der DDR. Die Behörde beim Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (BStU) hat »neues deutschland« auf Antrag allein im ersten Zugriff weit über 3000 Seiten zur Einsicht bereitgestellt. Worum es bei den einzelnen Taten ging und wie in Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei verfahren wurde, ist meist bis aufs letzte i-Tüpfelchen in MfS-behördlichen Vorgängen aller hierarchischen Ebenen, also mitunter vom rangniedrigsten Bearbeiter bis zum Minister, dokumentiert.

Einige Beispiele: »Nieder Honecker, hoch lebe Adolf Hitler!«, Kreideaufschrift, 50 x 100 cm, Berlin-Mitte (operatives Material »Borsig«, 18.4.82); »Neger sind doof, Scheißkanaken, Deutschland erwache!«, schwarz gesprayt, 8 x 1 m, Spreetunnel, Berlin-Friedrichshagen (operativer Vorgang »Tunnel«, 1.10.82); hektografierter Brief, u. a. an die Synagoge, Berlin-Prenzlauer Berg, Rykestraße, »An die Judenschweine! ... Wir sind die 2. Generation der Nationalsozialisten, und wir werden Deutschland von Kanaken, Niggern, Juden und Ausländern befreien« (Info an MfS-Chef BV Berlin, handschriftlich, 31.5.83); Flugblattaktion »Deutsche! Immer mehr Ausländer kommen in die DDR ... Sie vermehren sich wie die Ratten, vergewaltigen unsere Mädchen und schleppen Krankheiten ins Land. Wehrt Euch!« (3.8.83, nicht weiter verfolgt); sechsköpfige »faschistische Gruppierung« im Raum Erfurt dingfest gemacht, Besitz von Waffen und Sprengmitteln, militärische Wochenendübungen: »Wir wollten alles tun, um für den Ernstfall vorbereitet zu sein.« (MfS BV Erfurt an zentralen Operativstab Ministerium MfS Berlin, 16.8.84).

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eskalierten die Vorfälle in Zahl und Schwere. Hier ein kleiner Auszug aus der Jahresanalyse 1987 der Hauptabteilung XX, u. a. zuständig für »politischen Untergrund«: 22.3. NVA-Angehöriger von sechs Skinheads in Berlin-Marzahn brutal zusammengeschlagen; 11.9. gemeingefährliches Zusammenschlagen mosambikanischer Staatsbürger in Dresden; 17.10. Ausschreitung größeren Ausmaßes gegen eine Punk-Veranstaltung in der Zionskirche Berlin; 31.10. Rowdytum nach Jugendtanz in Velten, Bezirk Potsdam, viele Besucher verletzt, Einrichtung zerstört, brutaler Angriff auf VP-Einsatzkräfte.

Kam es zu einer Verurteilung, erfolgte die natürlich auch wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung usw. Vor allem aber nach Paragraf 220 des StGB der DDR. Bei dem ging es weit gefächert um »Öffentliche Herabwürdigung« (von Verächtlichmachung staatlicher Funktionäre und Institutionen bis zu Äußerungen faschistischen und militaristischen Charakters; Strafandrohung ein bis drei Jahre Haft). Relativ oft gab es auch gesellschaftliche Strafen, wie im Fall von drei Studenten einer Berliner Ingenieurschule. Nach Hitlergruß sowie »Sieg heil!«-Rufen in einer Gaststätte wurden sie per 31. Mai 1985 für zwei Jahre exmatrikuliert.

Vergleiche von zusammenfassenden Zahlen aus DDR und BRD gestalten sich nicht nur für die 1980er Jahre schwierig. Zu unterschiedlich waren die statistischen Kriterien, zu unterschiedlich die Rechtslage. So weist beispielsweise der jährliche Verfassungsschutzbericht 1985 für die alte BRD insgesamt 1045 strafrechtlich verfolgte rechtsextreme Straftaten aus: vom Tötungsdelikt (1) über Raubüberfälle (11) und Körperverletzungen (44) bis zu Gewaltandrohungen (159) und Sonstigem (812), dazu noch Schmieraktionen (660).

Um eine ungefähre quantitative Vergleichsvorstellung zur DDR zu geben, sei auf eine statistische Zuarbeit an den Leiter der HA XX von 1988 verwiesen. Demgemäß gab es in den ersten neun Monaten 1067 neonazistisch auffällig gewordene Personen, darunter in den Bezirken von Berlin (447) und Potsdam (120) bis Karl-Marx-Stadt (6) und Schwerin (3). Bis zur Mitte des gleichen Jahres waren allein 73 abgeschlossene und laufende Verfahren »gegen Skinheads und Sympathisanten« zu verzeichnen.

Der Soziologe und promovierte Politologe Walter Süß qualifizierte den Rechtsextremismus in der DDR in einer Studie von 1993 im Vergleich zur BRD folgendermaßen: Zum Handlungsrepertoire gehörte Gewalt, aber noch nicht Menschen gefährdende Brandstiftung, Totschlag oder Mord; niedrigeres Organisationsniveau; kaum formalisierte Strukturen außer bei einschlägigen Fußballfanklubs; keine organisatorischen Beziehungen zur BRD-Szene, aber zu einzelnen dortigen »Kameraden« persönliche Kontakte. Diese hätten später in den neuen Bundesländern »für den schnellen Erfolg« der BRD-Organisationen sowie bei der Werbung neuer Mitglieder »eine bedeutende Rolle gespielt«. Laut Ernst Uhrlau, Ex-BND-Präsident, war die geschätzte Zahl militanter Rechtsextremer in den neuen Bundesländern 1992 mit rund 3800 bereits vier Mal so hoch wie zum Ende der DDR.

Bleibt die Frage, warum die Szene auch schon in den 1980er Jahren der DDR bereits so ausgeprägt war. In einem von aktiven Antifaschisten regierten, von ihnen zum »objektiv antifaschistisch« erklärten realsozialistischen Land? In dem nach 1949 im Vergleich zur Alt-BRD nur eine geradezu verschwindende Zahl einstiger NS-Aktivisten in Funktionen gekommen war? In dem in 40 Jahren rund 20 000 Verfahren bzw. Verurteilungen in Sachen Nazi-Verbrechen, Rassismus, Neonazismus usw. stattgefunden hatten?

Alles Westimport - diese karge wie simple Antwort ist ganz sicher zu dürftig. Nahe liegt, dass in gewisser Weise auch für die DDR galt, was Carolin Emcke in dem eingangs erwähnten Interview für die alte BRD so umriss: Vorhanden gewesen sind schon »immer ein stabiler Pegel von Ressentiments« und ein offenbar dauerhaftes »Sediment von Rassismus und Antisemitismus«.

All dem war durch weitgehende öffentliche Duldung in der alten BRD wie durch absolut gedeckelte Verfolgung in der DDR nur sehr begrenzt beizukommen. Weil nämlich Rassismus und Faschismus offenbar ihrem Wesen nach grenzüberschreitend sind, politisch, geografisch und historisch. Übrigens auch soziologisch und psychologisch. Diese Annahme bekräftigt leider ein Blick auf das Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso wie einer auf den Anfang des 21. Jahrhunderts.

Pegelstand hin, Sedimentreste her: Wenn es um die neue Qualität von Rassismus und Neofaschismus in Deutschland geht, spielt etwas Anderes, Neues eine perfide wie prägende Rolle. Und da sei Frau Emcke noch einmal zitiert. Die »ideologischen Vorlagen« werden nicht mehr von denen geprägt, »die da auf der Straße agieren«. Vielmehr sind die Brüller von Hassparolen »in gewisser Weise Marionetten, die an den Strippen eines Diskurses hängen, der woanders geführt wird: in Reden, Talkshows, Publikationen, in den sozialen Medien. Dort sitzen die Zulieferer des Hasses.«

Diese brisante neue Qualität gab es übrigens in der alten BRD fast ebenso wenig wie in der DDR.

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