Martin Schulz - der große Unbekannte

Der designierte SPD-Kanzlerkandidat ist seit vielen Jahren Europapolitiker. Unklar ist, wofür er innenpolitisch steht

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 3 Min.

Eigentlich hatte sich die Führung der SPD geschworen, erst am Sonntag bei einer Vorstandsklausur im Berliner Willy-Brandt-Haus ihren Kanzlerkandidaten zu präsentieren. Doch vor einer Sitzung der engeren Parteiführung am Dienstag wurde bekannt, dass Parteichef Sigmar Gabriel verzichten und stattdessen seinen Parteifreund, den früheren Europaparlamentspräsidenten Martin Schulz, als Herausforderer von Amtsinhaberin Angela Merkel vorschlagen will. Schulz wird nun auch Vorsitzender der Sozialdemokraten.

In Teilen der Partei hatte es Vorbehalte gegen Gabriel gegeben. Kritik an ihm war etwa in seinem niedersächsischen Landesverband und bei den Jusos laut geworden. Denn der SPD-Vorsitzende, der zugleich Bundeswirtschaftsminister ist, steht oft nicht zu seinen Aussagen, sondern er laviert. So etwa bei der Vermögensteuer, deren Wiederbelebung er einst forderte und sie dann einige Jahre später für »tot« erklärte. Inzwischen kann sich Gabriel die Steuer »unter Bedingungen« vorstellen.

Stimmen zur Kandidatur: Lob für Gabriel, Zweifel bei der Opposition

Berlin. Die Entscheidungen in der SPD zu Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz hat die SPD-Umweltministerin Barbara Hendricks überrascht. Hendricks sagte, mit der Entscheidung habe sie nicht gerechnet, aber sie respektiere sie. SPD-Chef Sigmar Gabriel habe die Entscheidung »aus einer Position der Stärke heraus gefällt«, fügte sie hinzu. Der SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann fand lobende Worte für den Verzicht Sigmar Gabriels auf Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz zugunsten von Martin Schulz: »Dass er eigene Interessen zurückgestellt hat, um bessere Erfolgschancen für die SPD zu bekommen, verdient allergrößten Respekt«, sagte Oppermann.

Grünen-Chef Cem Özdemir hat die Nominierung von Schulz als Kanzlerkandidat begrüßt: »Martin Schulz steht zweifelsohne für einen proeuropäischen Kurs«, sagte Özdemir der »Rheinischen Post«. Er sei allerdings gespannt, wie Schulz die Herausforderungen in der Umweltpolitik und bei der ökologischen Modernisierung der Wirtschaft anpacken möchte.

Die LINKEN-Bundesvorsitzende Katja Kipping äußerte sich dagegen skeptisch: »Ob Martin Schulz ein Zeichen für einen fortschrittlichen Politikwechsel wird, ist unbestimmt.« Für sie werde es sich daran zeigen, ob er bereit sei, die Reichen zu besteuern, die solidarische Mitte zu stärken, die Armut wirksam zu bekämpfen und Europa nicht zu einer Militärmacht auszubauen, sagte sie dem Tagesspiegel.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sieht die SPD und mit ihr die Große Koalition »im ungeordneten Rückzug«. Lindner erklärte: »Es ist leichtfertig, die Stabilität Deutschlands in dieser weltpolitischen Situation aufs Spiel zu setzen.« Agenturen/nd

Rasante Wendungen wie diese sind auch ein Grund dafür, warum Gabriel in den Umfragen katastrophale Werte erreicht und deswegen gegen Merkel als chancenlos galt. Er wurde intern dafür verantwortlich gemacht, dass die SPD nach aktuellen Erhebungen nur noch auf 20 bis 21 Prozent der Stimmen kommt. Nun will Gabriel offenbar seine Karriere retten, indem er das Amt des Außenministers übernimmt.

Heilsbringer der Sozialdemokraten soll der deutlich populärere Schulz werden. Er zählt zwar ebenso wie Gabriel zum konservativen Flügel der Sozialdemokraten, hat aber zugleich einen besseren Draht zu den linken Sozialdemokraten. Bei deren Treffen war der Europapolitiker Mitte Oktober in Berlin aufgetreten und hatte dort eine umjubelte Rede gehalten. Zudem war am Dienstagabend eigentlich ein Auftritt von Schulz bei einem Treffen von Abgeordneten der SPD, LINKEN und Grünen in den Räumlichkeiten des Bundestags geplant, das wegen des Treffens der SPD-Spitze abgesagt werden musste. Dort wollte Schulz ebenso wie der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE) und die Vorsitzende der Grünen-Europafraktion Ska Keller über die EU referieren. Beobachter hatten dies als Signal gewertet, dass Schulz offen für eine rot-rot-grüne Koalition nach der Bundestagswahl im Herbst sein könnte. Ein solches Bündnis ist nach Umfragen allerdings weit von einer gemeinsamen Mehrheit entfernt.

In letzter Zeit hatte die Politik von Schulz indes keineswegs zu Applaus bei der Linkspartei und beim linken Flügel der Grünen geführt. Bei einem Parteikonvent in Wolfsburg hatte er Gabriel im September dabei unterstützt, einen faulen Kompromiss durchzusetzen, um das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA zu retten, durch welches unter anderem ein Abbau von Umweltstandards sowie von Rechten der Arbeiter und Angestellten droht.

Außenpolitiker wie Schulz rangieren in deutschen Beliebtheitsrankings vorne, weil sie in den Nachrichten im Rampenlicht stehen, ohne Entscheidungen treffen zu müssen, die einen sofort sichtbaren negativen Effekt für die deutschen Staatsbürger haben. Dies war auch ein Grund, warum sich der scheidende Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der Mitte Februar zum Bundespräsidenten gewählt werden soll, zumeist über einen großen Zuspruch in der Bevölkerung freuen konnte.

Für welche innenpolitischen Inhalte sein Parteikollege Martin Schulz steht, ist noch nicht bekannt. Im Europawahlkampf 2014 beließ er es bei etwas sozialpolitischer Rhetorik. Bei den Rededuellen mit dem luxemburgischen Konservativen Jean-Claude Juncker, der letztlich anstelle von Schulz Präsident der EU-Kommission wurde, war aber deutlich geworden, dass zwischen den beiden Kandidaten keine großen inhaltlichen Unterschiede bestehen. Auf europäischer Ebene existiert ebenso wie in der Bundesrepublik eine Große Koalition, in der EU ist diese allerdings informell. Schulz hat sich ebenso wie die meisten seiner Parteikollegen gemeinsam mit den Konservativen für die neoliberalen Reformen in den europäischen Krisenstaaten nach dem Vorbild der deutschen Agenda 2010 eingesetzt.

In der Bundespolitik hat Schulz bislang noch überhaupt keine Erfahrungen. Er war seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments. Zudem amtierte Schulz von 1987 bis 1998 als Bürgermeister von Würselen, einer nordrhein-westfälischen Stadt mit etwa 40 000 Einwohnern in der Nähe von Aachen.

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