Sinnlos aus dem Leben gerissen

Anne Teresa De Keersmaeker tanzt und spricht Rilke im HAU

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

In einer einzigen Nacht des Jahres 1899 hat Rainer Maria Rilke nach eigener Aussage das Prosagedicht »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« niedergeschrieben, als Gast in einer Schmargendorfer Villa. Beim Ersterscheinen 1906 war der Erzählung noch wenig Resonanz beschieden; als Nummer 1 der Insel-Bücherei trat sie 1912 ihren Siegeszug an, der bis heute mit Millionen-Auflagen anhält. Kurt Weill und Viktor Ullmann vertonten sie, die Oper von Siegfried Matthus hatte Mitte der 1980er an der Semperoper Dresden ihre Uraufführung: getanztes Bildertheater in der Regie von Ruth Berghaus. Drei Jahrzehnte später erlebt die Geschichte vom Fahnenträger, der in der Nacht vorm Schlachtentod mit blutjungen 18 hastig und heimlich die Liebe kennenlernt, eine weitere Tanzversion.

Der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker ist freilich jede romantisierende Annäherung an den lyrisch schwingenden Text fern. Sie zerlegt ihn in 26 nummerierte Kapitel und lässt im Hebbel am Ufer auf gänzlich weißer Szene eher nüchtern agieren. Eine »alte Liebe« nennt sie den Stoff und untersucht in ihrer rund 70-minütigen Lesart das Zusammenwirken eines musikalisch klingenden Textes mit Musik und Bewegung.

Mit einem nervös in den Raum hineinfahrenden Solo stimmt Michaël Pomero auf die Situation des Cornets ein: endlos dem Heer entgegenzureiten, mit dem er gegen die Türken kämpfen soll. Lang verhalten seine Posen, die Schuhe scharren über den Boden, wirbeln Staub auf. Nach Balance fahndet er, baut immer wieder Verzögerungen in den tänzerischen Fluss ein, scheint mit den gereckten Armen Strecken auszumessen. Als Tanz und Textprojektion stoppen, bläst, stottert und zerhackt Chryssi Dimitriou an der Rampe Salvatore Sciarrinos »Opera per flauto« als erregten Dialog zwischen Flöte und Atemluft. Dann vereinen sich Tänzer und Musikerin mit Anne Teresa De Keersmaeker als Spiritus rector des Experimentierfelds. Eng beieinander bleiben die Tänzer wie jene Freunde im Text, der zarte französische Marquis und der Junker von Langenau. Töne peitschen sie wie Aufschreie, Staub umweht sie beim Versuch, Fuß zu fassen in jenem Raum, der ihr Leben ist und zum Ort der Katastrophe wird.

Nach zahllosen Schleifkurven, abrupten Körperwendungen, weiten Ausfällen hat der Marquis seine Schuldigkeit getan und geht: Keersmaeker bestimmt nun allein die Szene. In bewundernswerter Diktion spricht sie den kniffligen Text im deutschen Original und gestaltet ihn tänzerisch-gestisch. Wie der Franzose erst welk, dann dem Junker ein Freund wird, der ihm beim Abschied ein Rosenblatt zum Schutz reicht; wie Langenau Rast in einem Schloss macht und dort von der Gräfin in die Liebe eingeweiht wird; wie ihn des Morgens der Brand weckt, den heimtückisch der Feind gelegt hat und der ihn, den Fahnenträger, zum Dienst ruft, ohne den verbrannten Uniformfrack und mit lohender Regimentsflagge. Mitten hinein in das Heer, wo ihn die Soldaten niedermetzeln.

Im Dunkeln liegend, spricht Keersmaeker die Passage über die Liebensnacht, als die Zeit eingestürzt scheint, bis die Brandröte ihn nach zerrissenem Schlaf aufstört. Auch sprachlich verzögert sie, muss den Atem zwischen Text und Bewegung gut austarieren. Ganz hinten, vor der Leinwand, im Ausweglosen, endet ihr Weg. Da sind mit dem Uniformrock das Rosenblatt und der freudige Brief an die Mutter über die Beförderung längst verbrannt, der Cornet erschlagen. Das sieht man ebenso wenig, wie Rilke es beschreibt.

Lakonisch endet die Performance mit dem Fakt der überbrachten Todesnachricht an die weinende Frau von Langenau. Keersmaeker geht da schlicht ab, die Geschichte ist erzählt, das Experiment getan. Als spröde wirkt es nach und hat doch auch Überzeugungskraft, wie sich zeitgenössischer Tanz diesem Sujet nähern kann. Einen fragwürdigen Heldentod erleidet der Fahnenträger, wird sinnlos aus hoffnungsfrohem Leben gerissen. Rilke poetisiert, wo Keersmaeker kühl seziert. Dann doch ein Erlebnis.

Bis 12.3., HAU1, Stresemannstr. 29, Kreuzberg, Tel.: (030) 25 90 04 27, www.hebbel-am-ufer.de

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