Von der Freiheit des Menschen

Feridun Zaimoglus Luther-Roman »Evangelio« ist ein Meisterwerk der deutschen Sprachkunst

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 7 Min.

Wer war Martin Luther? Über den Kirchenreformator und Begründer des Protestantismus gibt es ebenso viele Bilder und Vorstellungen, wie es zu Zeiten Luthers Reliquien gab, deren Besitz den Gläubigen das Fegefeuer der Hölle ersparen und einen Platz im Paradies sichern sollte. Lucas Cranach der Ältere und sein Sohn Lucas Cranach der Jüngere, die »Hofmaler« Luthers, haben diesen wahlweise als energischen, klarsichtigen Mann oder als weisen Kirchenvater porträtiert. Die Bilder wurden im 16. Jahrhundert tausendfach im Dienste der lutherischen Propaganda vervielfältigt und unters Volk gebracht. In dem Film »Luther« des britischen Regisseurs Eric Till wird der Reformator (gespielt von Joseph Fiennes) als edler Aufklärer und Humanist, als standhafter Rebell heroisiert, der seine Denkschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« mutig gegen Papst und Kaiser verteidigt. In dem TV-Film »Katharina Luther«, der in der ARD vor einigen Wochen quasi das Luther-Jahr einleitete, ist der vom Mönch zum Reformator gewandelte Luther (Devid Striesow) ein von Selbstzweifeln geplagter, den Menschen gegenüber verschlossener Mensch, das Mann gewordene Mitleid. Wie es scheint, ist Martin Luther vieles gewesen.

Was für ein Mensch aber war Luther wirklich? »Der sturste Ochs, den ich kenne, das ist Luther.« So beschreibt ihn Landsknecht Burkhard in Feridun Zaimoglus jüngstem Roman »Evangelio«. Burkhard ist eine fiktive Figur, ein Kunstgriff Zaimoglus. Burkhard ist ein dem katholischen Glauben treu ergebener Krieger, der vom Kurfürsten Friedrich III. von Sachsen Luther zur Seite gestellt wurde. Der Reformator war im Mai 1521 vom Reichstag in Worms für vogelfrei erklärt worden und konnte damit von jedermann straffrei getötet werden. Burkhard ist Wächter, Beschützer und laienhafter theologischer Widerpart in einer Person. Eingebettet in die sich entwickelnde Beziehung zwischen Burkhard und Luther sind fiktive Briefe des Reformators an den Wittenberger Reformator Philipp Melanchthon und an den Beichtvater von Friedrich III., Georg Spalatin, in denen Zaimoglu seinen Luther dessen Gedankenwelt ausbreiten lässt.

Zeitlich umfasst der Roman den knapp zehn Monate währenden Aufenthalt Luthers auf der Wartburg. Hier übersetzte er auf Anraten Melanchthons in nur elf Wochen das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche. Die Übersetzung findet dank des wenige Jahrzehnte zuvor von Johannes Gutenberg erfundenen Buchdrucks mit beweglichen Lettern und der Druckerpresse in den evangelischen Gebieten einen reißenden Absatz, wird dort zum Volksbuch und trägt damit wesentlich zur Entwicklung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache bei.

Zaimoglus Romansprache ist dieser Zeit entsprungen. Ein sprachgewaltiges Epos ist so entstanden, durch das man sich als Leser kämpfen muss wie Luther durch seine Seelenqualen. Wenn es leicht wäre, wäre es nicht gut. In »Evangelio« geht es, sagen wir es so neutral wie möglich, ziemlich deftig und vulgär zu. Luther wütet und schimpft, flucht, wird von Dämonen heimgesucht, von apokalyptischen Visionen gepeinigt. »Die Bestie brüllt, die Propheten brüllen, Endzeit ist erfüllt.« Frauen? - Sind ihm entweder Huren oder Hexen: »Diese Weiber ohne Seligkeit verderben alles an Frucht. Niederhalten muss man sie, verkohlen muss man ihr Fleisch, verfluchen ihr Unwesen.«

Luthers Judenhass: Zaimoglu lässt ihn in für Protestanten und Evangelische quälender Art und Weise aus diesem Luther herausquellen wie eine Vorahnung dessen, was sich Jahrhunderte später - auch geduldet und propagiert von der evangelischen Amtskirche - im Furor des Massenpogroms von Deutschland aus Bahn brach. Keine Entschuldigung findet sich in diesem Luther, keine Relativierung dessen, was Nachgeborene zum Teil heute noch allein seiner späten, drei Jahre vor seinem Tod verfassten Hetzschrift »Von den Juden und ihren Lügen« zuschreiben und manche (wie die Drehbuchschreiber des eingangs erwähnten TV-Films über Luthers Frau Katharina) mit Luthers Gram über den Tod einer seiner Töchter entschuldigen, für den der Reformator den jüdischen Arzt der Familie verantwortlich machte.

Zaimoglus Luther lässt schon zu Beginn des Buches keinen Zweifel: »Die Judenheit, das sind tausendjährige Schläfer, haben sie doch den Gesalbten übersehen, weil sie träumten, und ihr Traum war vom verstockten Teufel gespendet. Aufgehoben sei die Heiligkeit des gottverlassenen Volkes. Unter meine Füße ihr Groll. Geheiligt sei unser Volk.« Und er glaubt, den Mediziner Neham Rosenhag als »Jud« schon riechen zu können, bevor er ihn sieht, und ist sich sicher: »Der Jud wird ohne Schweiß und Arbeit reich. Ich wüsste davon, gäbe es fleißige Juden.«

War Luther ein hoffnungslos dem Judenhass verfallener, vom Wahn Verfolgter? Zaimoglu macht uns Hoffnung, dass das nur eine Facette von Luthers Charakter war. Als Luther und sein ständiger Schatten Burkhard bei einem Ausritt an einem Galgen vorbeikommen, an dem ein von einem Lynchmob aufgehängter Jude baumelt, und die Menge über den Tod des »Heilandsmörders« jubelt, lässt Zaimoglu Luther erschaudern und sich über den Pöbel empören. Und er nutzt diese Szene, um via Burkhard Luther und allen religiösen Judenfeinden ins Gewissen zu reden. »Auf die Art jauchzten die Mörder an Jesu Balken! Meister, dich schlug der Herr mit Blindheit, (…) was kämpfst du nicht gegen die Schakale, was schimpfst du wider den Jud, der uns weitergab sein Heil?! Dein Teufel steckt in diesen jubelnden Lumpen!«

Zaimoglus Luther ist aber nicht nur ein Menschlein, das wie alle seiner Zeit von Aberglauben und Dämonenfurcht beherrscht wurde und dem die Aussicht auf ein besseres Leben im Jenseits der einzige Trost war. Zaimoglus Luther ist auch ein kluger Stratege, der sich der politischen Spielregeln und geopolitischen Lage seiner Zeit bewusst war. Der Erfolg der Reformation beruhte auf einer Allianz von theologischem Eifer wider Rom (Luther) und kühlkalkulierter Machtpolitik (Friedrich III.). Ersterer wollte »Babylon« fallen sehen, eiferte gegen den »Römerfürsten«, Zweiterer den Einfluss der deutschen Territorialfürsten gegenüber dem Kaiser und dem nach Ausbau seiner Macht strebenden Papsttum stärken (auf dem Papststuhl thronte damals ein Medici!). Der tiefgläubige Katholik Friedrich, der wie seine Untertanen die Jungfrau Maria anbetete und an die Kraft der Reliquien glaubte (nach der Überlieferung hatte er in Wittenberg eine Sammlung von annähernd 20 000 Reliquien zusammengetragen, die nach der herrschenden römischen Lehre zwei Millionen Jahre Fegefeuer ersparten), schützte den Ketzer Luther vor dem päpstlichen Bann, indem er ihm auf der Wartburg Asyl bot.

Dieses Asyl war eine Mischung aus Zufluchtsort und Gefangenschaft - und genau hier begann der Urknall der Aufklärung auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation: die Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen ins Deutsche! Luther war vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522 inkognito als »Junker Jörg« auf der Wartburg. Die Übersetzung des Neuen Testaments erfolgte im Herbst 1521. Im März 1522 kehrte Luther nach Wittenberg zurück, um dort gegen die Bilderstürmerei der radikalen Kirchenreformatoren um Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, und den beginnenden sozialen Aufruhr zu predigen, der wenige Jahre später sich im Deutschen Bauernkrieg entlud.

Zaimoglu bedient sich eines literarischen Tricks, wenn er den Aufenthalt Luthers in Wittenberg in die Zeit verlegt, als Luther auf der Wartburg weilte. Er lässt ihn mit seinem Wächter und Beschützer Burkhard von der Stippvisite nach Wittenberg zur Wartburg zurückkehren. Dort verfügt der Burgvogt kategorisch: »Schreibt am teutschen Werk, ich wird die heiligen Seiten lesen.« - »Es ist beschlossen«, wispert Luther gehorsamst, taucht seine Feder ins Tintenhorn und beginnt zu schreiben.

Was sollen wir von solch einem Luther halten? »War Luther allein eine deutsche Geistesgröße oder ein Heiliger der letzten Tage?«, fragt Feridun Zaimoglu rhetorisch im Nachwort. »Es darf mich nicht kümmern, ich bin ein Geschichtenerzähler«, gibt er sich selbst die Antwort. Doch auch diese von ihm erzählte Geschichte hat einen wahren Kern - ähnlich dem seines Romans »Leyla«. In dem 2006 erschienenen Roman, dessen Protagonistin in einer anatolischen Kleinstadt aufwächst, unter der Gewalt und den archaischen Vorstellungen ihres Vaters leidet, beschreibt Zaimoglu den Prozess von Aufklärung und sowohl gesellschaftlicher wie auch individueller Emanzipation als einen schwierigen, widersprüchlichen, immer wieder von Rückschlägen begleiteten, aber dennoch letztlich erfolgreichen Akt der Befreiung. »Leyla«, diese Hommage an die erste türkische Gastarbeitergeneration in Deutschland, einem Land, das Zaimoglu, Arbeiterkind aus Anatolien, schon mehrfach in Interviews als ein »Land mit großartigen Möglichkeiten« beschrieben hat, endet mit der Ankunft der jungen Mutter Leyla in Deutschland und ihren durch und durch positiven Erwartungen an die Zukunft. Was Zaimoglu damit sagen will, ist dies: Sehet her, so sieht die Freiheit des Menschen aus - im Sieg gegen den Dämon Angst!

Am Schluss von »Evangelio« hat auch der Mönch Luther seine Dämonen besiegt: »Der Weinstock rankt. Gott hat den Tod verschlungen. Babylon wird fallen.« Amen.

Feridun Zaimoglu: Evangelio. Roman. Kiepenheuer&Witsch, 352 S., geb., 22 €.

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