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Keine Haftverkürzung für Diktaturschergen

Massenproteste gegen Urteil des Obersten Gerichts in Argentinien / Senat verabschiedet Gegenmaßnahmen

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 4 Min.

»Señores jueces: Nunca más. Ningún genocida suelto. - Herren Richter: Nie wieder. Kein frei herum laufender Völkermörder.« Unter diesem Slogan protestierten am Mittwochabend allein in Buenos Aires eine halbe Million Menschen auf der Plaza de Mayo im Zentrum der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Sie wandten sich gegen ein Urteil des Obersten Gerichtshofs, das einem verurteilten Menschenrechtsverbrecher Strafnachlass aus der Diktatur einräumte und als Präzedenzfall wirken könnte. Menschenrechtsgruppen und linke Parteien hatten zu dem Protest aufgerufen.

Eine Woche zuvor hatte das fünfköpfige Richtergremium mit drei gegen zwei für die Anwendung des sogenannten Zwei-für-Eins-Gesetzes bei Menschenrechtsverbrechen gestimmt und einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Zwei der zustimmenden Richter waren 2016 auf Vorschlag von Präsident Mauricio Macri neu eingesetzt worden, weshalb auch der Präsident ins Zentrum der Kritik rückte. Macri wolle die juristische Aufarbeitung der Diktaturverbrechen von 1976 bis 1983 unterlaufen, so der Vorwurf.

Das landläufig als »Dos-por-Uno« titulierte Gesetz war von 1994 bis 2001 in Kraft und sollte ursprünglich der lahmenden Justiz Beine machen. Wer länger als zwei Jahre ohne rechtskräftiges Urteil in Untersuchungshaft saß, dem wurden die ersten beiden Jahre einfach und die Zeitspanne danach bis zur Verurteilung als doppelte Haftzeit auf die Haftstrafe angerechnet.

»Als ich das Urteil hörte, habe ich geweint«, sagte Mirtha Ramírez. »Ich gehöre keiner Menschenrechtsgruppe an, aber ich will, dass die Milicos im Gefängnis bleiben und nicht, dass diese Mörder uns auf der Straße begegnen.« Wie die 56-jährige Hausfrau aus dem Vorort San Miguel waren viele auf die Plaza gekommen. Weniger die große Menschenmenge beeindruckte, sondern vor allem ihre politische und soziale Bandbreite.

Im Urteil des Obersten Gerichts ging es um den Fall des heute 61-jährigen Luis Muiña, der als ziviler Krankenhausmitarbeiter einer Stoßtruppe angehörte, die im Hospital Posadas agierte. Die Militärs hatten auf dem weitläufigen Krankenhausgelände unmittelbar nach dem Putsch am 24. März 1976 ein geheimes Gefangenen- und Folterlager eingerichtet. 30 Krankenhausmitarbeiter wurden verhaftet, mindestens elf von ihnen sind seitdem verschwunden.

Muiña wurde 2011 wegen Entführung und Folter zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt. Zwei Jahre später wurde das Urteil rechtskräftig und zugleich die Anwendung der Zwei-für-Eins-Regelung verfügt. Demnach wäre Muiña im November 2016 aus der Haft entlassen worden. Nach einem juristischen Hin und Her bestätigte der Oberste Gerichtshof in letzter Instanz die Zulässigkeit der Zwei-für-Eins-Regelung. Was die Welle hochschlagen ließ, war die Begründung der Richter, die das Tor für alle wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilten Schergen der Diktatur auf Strafmilderung öffnete.

»Dieses Urteil legte fest, dass gewöhnliche Verbrechen dasselbe sind wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, erklärte der auf Verfassungsrechtler und Anwalt Andrés Gil Domínguez. »Es ist eine neue rechtliche und ideologische Art des Obersten Gerichts, Menschenrechtsverbrechen zu sehen.« Ähnlich äußerte sich Estela de Carlotto, Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo. »Welche Art von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Teil einer vom Staat gestützten Terrorkampagne sind, kann mit gewöhnlichen Verbrechen gleichgesetzt werden?«, fragte sie.

Wie sehr die Regierung bemüht war, die Wogen zu glätten, zeigt das Gesetz, auf das sie sich mit der Opposition in Windeseile einigte und das noch kurz vor der Demonstration im Kongress verabschiedet wurde. Demnach ist die Dos-por-Uno-Regelung »nicht anwendbar bei Menschenrechtsverbrechen, Völkermord und Kriegsverbrechen« und »kann nur bei solchen Fällen angewendet werden, bei denen der Verurteilte während der Gültigkeit des Gesetzes in Untersuchungshaft war«.

Und um jeglicher Neuauslegung eines Gerichts einen Riegel vorzuschieben heißt es darin, dass dies die »authentische Interpretation« des Zwei-für-Eins-Gesetzes ist und auf alle laufenden Verfahren anzuwenden ist. Das Abgeordnetenhaus stimmte am Dienstag mit nur einer Gegenstimme zu, der Senat votierte drei Stunden vor der Demonstration einstimmig dafür. »Die rechtliche Leerstelle, die dieses unglückliche Zwei-für-Eins-Gesetz hinterlassen hat, ist vom Kongress beseitigt«, kommentierte Präsident Mauricio Macri.

Auf der Plaza de Mayo wurde jedoch Wachsamkeit auf die Fahnen geschrieben. »Wenn das Urteil ein Versuchsballon war, dann ist er diesmal wie eine Seifenblase geplatzt. Aber wir müssen aufpassen, ob Regierung und Justiz nicht noch weitere aufsteigen lassen«, warnte Mirtha Ramírez.

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