Sprechen ohne Worte

Erstaufführung in Dresden: Helmut Oehrings faszinierende Musik zu Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm »Sunrise«

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Außergewöhnlich diese Veranstaltung. Im Dresdner Festspielhaus Hellerau lief Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm »Sunrise: A Song of Two Humans« von 1927, des Meisters Debütstreifen für Hollywood. Der muss schon damals aus dem Rahmen gefallen sein, denn er kam als sehr moderne Version in die Kinos, versehen mit etlichen technischen Tricks: raschen Schnittfolgen, Überkopierungen, rasanten Parallelmontagen und Zeichnungen so wilder wie düsterer Stimmungen in Schwarz-Weiß.

Dazu musizierte in Dresden live das Ensemble Courage in der Besetzung Trompete, Bassklarinette, Piano, Streichquartett und Kontrabass. Ihm zur Seite der unvergleichliche Vokalist David Moss, dem keine Stimmlage zu niedrig oder zu hoch zu sein scheint. Die Zuspielbänder mit effektvollen Illustrationen produzierte Torsten Ottersberg, langjähriger künstlerischer Partner des Komponisten Helmut Oehring. Dirigent der 80-minütigen Knochentour war der junge Alexandre Balzamo. Glänzend seine Leistung wie die aller Beteiligten. Das Ensemble Courage existiert nun seit 20 Jahren und hatte mit der Aufführung allen Grund zum Feiern.

Oehring schuf eine raffiniert durchgestaltete, vielerlei Klang- und Spielfacetten aufbietende Partitur mit dem Titel »Seven Songs for Sunrise«. Die Uraufführung fand im Kino »Le Capitole« in Lausanne statt. Die Murnau-Gesellschaft siedelt dort. Im Pariser Centre Pompidou folgte dann die französische, in Dresden nun die deutsche Erstaufführung.

Als geschichtlich kann dieses unerhörte Projekt gelten, einschneidend wie Schönbergs »Pierrot Lunaire« oder die »Begleitmusik zu einer Lichtspielszene«. Es gibt ja nach wie vor so viel Elendes in der Branche: Reproduktionen von alten Filmpartituren oder auf Filme draufgeschmierte digitale Klänge, wie fast jeder »Tatort« hinlänglich belegt. Schon mit seiner Musik zu dem Film »Berlin: Sinfonie einer Großstadt« (Ko-Komposition: Iris ter Schiphorst, Regie: Thomas Schadt) von 2001 ragte Oehring hervor. Sie war im Übrigen weit besser als der Streifen selbst.

Die Story von Murnaus Films ist herzergreifend und durchweg spannend. Dem Dorf am Wasser rückt die städtische Zivilisation auf den Pelz, in Gestalt einer mondänen jungen Dame, der es gelingt, sich an die Brust des Familienvaters nebenan zu drängen. Dramatisches widerfährt fortan der bäuerlichen Familie. Sie droht zu zerbrechen. Überwältigt von dem wilden Verlangen dieses Weibes, nährt sich die Fantasie des Mannes, die eigene Frau zu töten. Sie soll auf dem See sterben, aber ein Unwetter fährt dazwischen und treibt das Paar über verschlungene Wege in die Großstadt. Der Prozess, sich wieder zu nähern und füreinander zu empfinden, nimmt seinen Lauf.

Entlang dieser Story entwickelt die Musik die kühnsten Konfigurationen. Die Stimme des David Moss strukturiert dramaturgisch, sie singt stockend in »falscher« Atmung, würgt, gurgelt, sie kreiert und vernichtet Silben in Extremlagen. Manchmal spricht er filmische Zwischentexte nach, verfremdet sie. Der Vokalist, so Komponist Oehring, »ist zugleich Erzähler und schlüpft in die Perspektiven der Frauen und Männer. Und transferiert musikalische Verschlüsselungen in vorsprachliche, archaische Klänge.« Das heißt, Moss artikuliert paralingual, ähnlich wie es Gehörlose tun. Die Assoziation liegt nahe, dass er gleichsam die stummen Worte der Filmhelden in Laute übersetzt, mit denen Gehörlose ihre Gebärdensprache intuitiv begleiten - Muttersprache Helmut Oehrings, der als Kind gehörloser Eltern die Grammatik und Syntax der räumlichen Gebärdensprache als Grundlage seiner Kompositionen bezeichnet.

Verschiedenste Stilmittel wechseln einander ab. In jedem ist die Oehring’sche Hand zu spüren: Klangklimata der 20er, Cool Jazz der 50er Jahre (gestopfte Trompete), auch seltsame Dreiklangsbildungen - schräge, gedämpfte, heitere - auf dem präparierten Piano. Zitate tauchen an gegebener Stelle auf: Madrigale von Gesualdo, der Song »I Will« der Alternative-Rock-Band Radiohead. Lange musizieren zu Beginn die Streicher ihr trauriges, die Vorgänge retardierendes Lied. Anders später, als die Ehefrau in höchster Seelennot für einen Moment Hoffnung schöpft, ihr Mann würde zurückkehren. Daraus wächst der Musik selber Hoffnung zu, indem sie eine klar umrissene Form rhythmisch-motorischer Ausgelassenheit freisetzt. Wirklich in Rage kommt die Musik in dem Moment, wo der Mann im Boot auf die Frau losgeht, um sie zu ertränken.

In anderer Art ausmusiziert sind die Begebnisse in der Großstadt, etwa die Irrungen der beiden im Verkehrschaos, ihre kuriosen Kaffeehaus-Besuche, die Komik beim Friseur, als dieser dem Mann zu ungeahntem Glanz verhilft. Absolute Nummern sind die zu den Tanz- und Ballsequenzen, worin das Paar sich restlos verausgabt. Walzer taumeln trunken und drehen wie ulkige Musikkreisel. Der Film wie die ihn begleitende und auslegende, auch angreifende Musik gehen glücklich aus.

Rhythmen, Intervalle, Tempi, Lautstärken sind bei Oehring niemals nur auf sich selbst bezogen oder lediglich Barometer für Gefühlswerte und Stimmungen. Grundprinzip: Klänge vermögen fotografisch zu bannen, dokumentarisch klarzulegen. Vornehmlich etwas, das im Gegebenen schmerzlich vorfällt und die Herzkammern zu erdrücken droht. Oehrings Musiktheater »Quixote oder Die Porzellanlanze« etwa ficht unter Schmerzen gegen jenen »Fortschritt« an, dem gegenüber schon Don Quixote und Sancho Panza machtlos waren. Ein Stück von ihm heißt »Goya« - nach Kriegszeichnungen des Künstlers, ein anderes »Angelus Novus« - nach Bildern Paul Klees und darauf bezogenen Texten Walter Benjamins. Solche Bildwerke ergeben relevante Anknüpfungspunkte.

Auch glückliche Momente sind für Helmut Oehring essenziell und dokumentierbar, etwa die Freude am Existieren und Genießen, die sich einstellt, wenn das Beil den Knoten durchhaut, dessen Schnüre sich um das Menschsein gelegt haben. So zu erleben an diesem denkwürdigen Abend im Hellerauer Festspielhaus.

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