Das Beste am Eisen: der Rost

Zum Tod des prägenden deutschen Dramatikers Tankred Dorst

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Welt im Kopf. Dramatikers Brot. Und: sein schlechtes Gewissen. Denn der Konflikt plagt: Bloß immer schreiben, nicht wirklich eingreifen? Mit »Herr Paul« belehrte der Dichter sich selbst eines Besseren: Ja, genau, nicht eingreifen, sich um keinen Preis beteiligen, sich mit aller verfügbaren Körpervehemenz gegen die gespenstische Schnellkraft der Zeit, gegen die Anpassung und gegen die Hatz im Hamsterrad stemmen - das Starrbleiben im gesellschaftlichen Zugzwang kann die wahre und höchstsinnliche Aktion sein. Man schaue sich Kurt Böwe an.

Dieser großartige Leiblustkomödiant Böwe spielte vor Jahren in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin die Titelrolle in »Herr Paul« von Tankred Dorst. Ein umstaubter, schmuddeliger Mensch, der sich aus dem Hinterhaus eines zu modernisierenden Fabrikbaus partout nicht vertreiben lässt. Böwe hat aus diesem seltsamen, angejahrten Restposten gegen die Welt einen staunenswerten Philosophen der Bockigkeit gemacht, im wunderbaren Zusammenspiel mit der bezaubernd entrückten Christine Schorn. Dieser Herr Paul, das ist das alte Eisen, das auf seinen Rost stolz ist. Er ist der bleierne, aber heiterste Trotz - als letzte große menschliche Regung gegen die Geschäftigen. Dieser von Tankred Dorst erfundene alte Mann ist - das schwere Kind. Jenes Wesen aus dem Märchen, dem die Welt nichts antun kann, weil es nicht an ihr teilnimmt. Ein Alter, der alle Anpassungsnot verachtet und zunichtemacht. Geschichte eines Menschen, der, ja: am Schluss getötet wird - und doch tatsächlich, wundersam weiterlebt. Das war, nach der Zeitenwende, ein Prototyp: der listig behäbige, marktsabotierende Ostler im schnurrenden Westen.

Geboren 1925 im thüringischen Oberlind (bei Sonneberg), schrieb Dorst als Zwölfjähriger sein erstes Stück - über die Einführung der Kartoffel in Preußen. Wagen wir die Verallgemeinerung: Das Surren und Sausen der politischen Welt ist das eine, die Notwendigkeit täglichen Besinnens auf die Nahrhaftigkeit der Kartoffel das andere. Vielleicht ist es sogar wesentlicher. Alles so prüfen, wie man Essen und Trinken prüft und das Gesunde mit dem Genuss abwägt. Und dabei lernt: Nicht alles, was einem als gesund eingeredet wird, macht glücklich.

Dem Theaterschreiber Dorst, der als Abiturient vom Zweiten Weltkrieg an die Westfront geworfen wurde, war der Mensch stets wichtiger als irgendein Mechanismus, der individuelles Leben als Beweisstück für Ideologie missbraucht. Von Grund auf ein dialogischer Denker, schrieb er seine Stücke immer in schmale, lange Kaufmannsbücher, »die zwingen zur Konzentration, verhindern breites Auslaufen von Gedanken«.

Nach zahlreichen Bearbeitungen literarischer Vorlagen fand er in seinen Hörspielen, Libretti, Filmdrehbüchern und Schauspielen zu einer eigenständigen Dramatik, die sich mehr und mehr weigerte, Figuren einer geschlossenen Dramaturgie zu opfern. Die private Biografie im Horizont der Geschichte wurde zum bestimmenden Thema des heiteren Skeptikers (»Auf dem Chimborazo«, »Grindkopf«, »Schattenlinie«). Dorsts Bandbreite reichte vom psychologischen Realismus bis zu Bruchstücken des Surrealen; die geistige Nähe zu Allegorie und Märchen signalisierte jene Anziehungskraft, die Bilder der Vorzeit auf den Dichter ausgeübt haben. Über dreißig Stücke verfasste Dorst. Er beherrschte die Farce und das Geschichtsdrama. Seine Gestalten: in aller Tragik doch Gemäßigte; in aller Geworfenheit doch nüchtern Erkenntnisfähige. Eine Ahnung Brecht, eine Ahnung Büchner, eine Ahnung Peter Weiss.

Gut gebaute Stücke über den endlosen Menschen-Versuch, geschichtlich nicht zu scheitern - dies musste ein bitterer Verlustweg bleiben. Denn nichts hilft dem Menschen: kein schauderhafter revolutionärer Ernst, kein Traumerweckungsschlaf auf dem fliegenden Teppich der Utopie. Geschichts- und Politikfuror als Lebenssinn erzeugt nur Tote ohne Begräbnis und Begrabene ohne Totenschein. Der Dichter als Berichterstatter von Prozessen - freilich ohne Urteilsverkündung. Ambivalenz.

In den sechziger Jahren wurde »Toller« zum bundesdeutschen Theaterereignis: Porträt eines Theatralikers der Revolution, eine Auseinandersetzung mit den Eitelkeiten politischen Schwärmertums. In »Eiszeit« errettete Dorst den Norweger Hamsun gleichsam vor der ewigen Ächtung als Nazi-Kollaborateur. »Merlin oder Das wüste Land« wurde zu seinem erfolgreichsten Stück: die Artusritter-Runde als fantastischer Albtraum in einer vom Wahn erfassten Untergangswelt.

Er bekannte gern, dass er seine Gestalten nicht wirklich in der Hand und daher großes Vertrauen in die Verlebendigungskraft der Bühne hatte. Der Anspruch des Theaterwissenschaftlers, der beim Puppentheater begonnen hatte, war deshalb in erster Linie kein literarischer, sondern ein theatralischer. Dorst blieb als Autor stets ein praktisch denkender Bühnenmensch, der seine schreiberische Arbeit »nur« als Vor-Sehung dessen betrachtete, was sich erst im Schau-Spiel verwirklichen kann. So wurde der Wahl-Münchener einer der wenigen Dramatiker, die ihre Texte nicht nur fürs, sondern auch gern und kooperativen Sinnes unmittelbar am Theater, also beim Probenprozess schreiben. Besonders oft - auch im Fernsehen - für das große Geschmacksverderbergemüt Peter Zadek. Und seit Jahrzehnten gemeinsam mit seiner Lebens- und Schreibgefährtin Ursula Ehler.

Am Donnerstag nun ist Tankred Dorst, der im hohen Alter als Regisseur bei den Bayreuther Festspielen debütierte, im Alter von 91 Jahren in Berlin gestorben.

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