Höhenrausch am Arbeitsplatz

Sachsen: Chemnitzer Industriekletterer sind deutschlandweit im Einsatz, jüngst auch an der Staumauer Werda

  • Martin Kloth, Chemnitz
  • Lesedauer: 4 Min.

300 Meter über Chemnitz verspürt auch Thorsten Lermer so etwas wie Euphorie. »Die Landschaft sieht aus wie auf einer Modelleisenbahn. Selbst als Höhenarbeiter ist es selten, an so etwas mitzuarbeiten«, sagt der 54-Jährige über seinen aktuellen Arbeitsplatz, einen Riesenschornstein. Mit seiner Firma MSD alpin ist Lermer seit 1995 deutschlandweit an Wänden, Mauern und Fassaden aller Art unterwegs - von seinen bislang rund 3000 Baustellen war noch keine höher als der Schornstein der Stadtwerke Chemnitz.

Die Esse ist mit 301,80 Meter Sachsens höchstes Bauwerk. Lermer und seine Crew sollten spiralförmig LED-Leuchten anbringen und so den Entwurf des französischen Künstlers Daniel Buren vollenden, nachdem der Schlot bereits in sieben verschiedenen Farben gestrichen wurde. Weil die Leuchten fehlerhaft waren, mussten sie wieder demontiert werden. Die Lichtinstallation ist bislang nicht verwirklicht. »Schade, dass es nicht umgesetzt wurde«, bedauert Lermer.

Der Chemnitzer nennt sich Industriekletterer. »Das ist ein knackiger Begriff«, sagt der Firmenchef. Nach Technosport zu DDR-Zeiten sowie später Gewerbekletterer und Höhenarbeiter habe sich dieser Begriff in den vergangenen Jahren durchgesetzt.

Beim Fach- und Interessenverband für seilunterstützte Arbeitstechniken e.V. (FISAT) ist die Vokabel Industriekletterer dagegen verpönt. Zum einen werde suggeriert, es gebe eine Verbindung oder Vermengung von gewerblichem Einsatz und der Freizeitaktivität Klettersport. »Zum anderen klettern Höhenarbeiter in der Regel nicht, da sie planmäßig Seile und entsprechende Geräte nutzen, um einen Arbeitsplatz zu erreichen oder sich dort zu positionieren«, betont Geschäftsstellenleiter Sven Drangeid. Höhenarbeiter seilen sich ab.

Thorsten Lermer ist gelernter Sanitärinstallateur - und kam nach eigenem Bekunden durch das Klettern zu seinem Beruf. Er habe ein paar Schulungen mitgemacht. »Man wächst da so rein.« Schließlich gibt es auch keine Lehrausbildung als Höhenarbeiter. Es laufe in Deutschland alles über Zertifikate, sagt Lermer. Und es gebe Verbände, »die die Sache regulieren und die Sicherheitsstandards gewährleisten«, sagt sein Kollege Thomas Neumann.

Sicherheit ist das Kernthema der Industriekletterer. »Man guckt nicht auf spektakulär, sondern auf Sicherheit«, sagt Lermer. Karabiner, Seile, Haken, Helm, Handschuhe, Gurte - die Ausrüstung ist umfangreich und in einigen Fällen bis zu 15 Kilogramm schwer. Für schweres Gerät habe man ein separates Seil. Die FISAT listet acht Top-Sicherheitsregeln auf, darunter keine Alleinarbeit, das permanente Benutzen von zwei voneinander unabhängigen Systemen und die Möglichkeit zur Evakuierung.

Lermer berichtet, bei Arbeiten unter seiner Regie habe es noch keinen schweren Unfall gegeben; lediglich kleinere Unfälle, die auf Leichtsinn oder Unachtsamkeit zurückzuführen sind - und Todesfälle gleich gar nicht. »In unserer Branche ist das alles im Rahmen, im Vergleich zu Dachdeckern und Gerüstbauern«, sagt Lermer. Auch bei der FISAT waren für die Jahre 2015 und 2016 weder schwere noch tödliche Unfälle in der Branche in Deutschland bekannt. »Wenn man nach den Vorschriften arbeitet, gibt es keine Gefahr«, sagt Lermer.

Die Berufsgenossenschaft (BG) Bau, wo freiwillig auch Höhenarbeiter versichert sind, hat keine detaillierten Statistiken für die Berufsgruppen. Unterteilt wird lediglich nach Art und Ort tödlicher Unfälle. 2014 gab es 31 Todesfälle durch Absturz, davon 16 von Dächern, drei von Gerüsten und zwei von Hocharbeitsplätzen. Im Jahr darauf verzeichnete die BG Bau 18 tödliche Abstürze, davon acht von Gerüsten und drei von Dächern. Hocharbeitsplätze waren nicht dabei. »Absturz ist die häufigste Ursache für tödliche Arbeitsunfälle am Bau«, so die BG.

Firmenchef Lermer und seine bis zu zehn Crewmitglieder übernehmen Arbeiten in luftigen Höhen aller Art, wo Gerüste oder Hebebühnen ungeeignet oder zu teuer sind: Fassadenreinigung, Motorenwechsel an Jalousien, Kontrolle von Brückenverstrebungen oder auch die Reinigung von Staumauern wie an der Talsperre Werda. Dort entfernten Lermer, sein Sohn Marco und Thomas Neumann jüngst Laub, Moos, Gräser und Baumsprösslinge aus den Fugen.

»Das wird alle drei bis fünf Jahre gemacht - je nach Bewuchs«, berichtet Staumeister Bernd Rudolf. Rund eine Woche brauchte das Trio für die circa 6000 Quadratmeter große Felssteinmauer. Das sei eine Wellnessbaustelle, sagt Lermer angesichts der Ruhe und Abgeschiedenheit im Vergleich zu Arbeiten in Kraftwerks- oder Industrieanlagen. dpa/nd

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