Die stillen Geister hinter den Tänzern

Marzena Sobanska und Korina Stolz-Franke pflegen als Choreologinnen das Repertoire des Staatsballetts

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Haben Sie sich auch schon gefragt, wie Tänzer ihre vielen, häufig kniffligen Schritte lernen und wer ihnen dabei hilft? Souffleure wie in der Oper und im Schauspiel fallen aus. Und doch gibt es jene stillen Geister, die unsichtbar für den Zuschauer Sorge tragen, dass jeder genau das tanzt, was der Choreograf als der Werkschöpfer entworfen hat. Zumal, wenn der nur Gast im Ensemble war und gleich nach der Premiere zu neuen Ufern fortzieht. Dann schlägt die Stunde des Choreologen. Er zeichnet nach einem bestimmten System noch während der Einstudierungsphase die Choreografie auf und macht sie damit jederzeit reproduzierbar. Wie aber funktioniert das? Marzena Sobańska und Korina Stolz-Franke sind Choreologinnen am Staatsballett und wissen darauf die Antwort.

Es gibt, erzählen sie, zwei international verbreitete Methoden für die Notation von Tanz. Eine geht auf den Tanztheoretiker, Pädagogen und Choreografen Rudolf von Laban zurück. Er ordnet jedem Körperteil ein Zeichen zu und kann so Bewegungsabläufe mit Lesart von oben nach unten notieren. Rund 20 Jahre später, Ende der 1940er Jahre, erfanden der tschechische Maler und Musiker Rudolf Benesh und seine Frau Joan, eine Ballettmeisterin, eine weitere Tanzschrift. Und die eignet sich, da sind sich die Choreologinnen des Staatsballetts einig, besser für klassischen Tanz. Denn im Unterschied zur sogenannten Labanotation verwendet die Benesh-Movement-Notation Notenlinien und Taktstriche wie in der Musik, was einen Zusammenhang mit der benutzten Partitur herstellt.

Jede der fünf Linien steht mit abstrakten Symbolen für die Bewegung eines Körperteils: Kopf, Schultern, Hüfte, Knie, Füße des jeweiligen Tänzers. Von den Notationsversuchen vieler Jahrhunderte haben sich lediglich die beiden bereits genannten behaupten können. Einziger Nachteil: Nur wer diese Aufzeichnungsmethoden studiert hat, kann sie auch lesen und mit ihnen umgehen.

Wie wird man nun Choreologe? Die zwei Frauen vom Staatsballett haben verschiedene Wege zum Beruf genommen. Marzena Sobańska absolvierte als Tänzerin und Ballettpädagogin die Staatliche Ballettschule ihrer Heimatstadt Warschau, tanzte am dortigen Opernhaus und in Karlsruhe, ab 1982 an der Deutschen Oper in Berlin. Hier weckte eine Gastchoreologin ihr Interesse. Ein Semester studierte sie extern, ging für das zweite ans Benesh Institute nach London, hatte meist bis Mitternacht zu lernen: eine intensive Zeit, weil die Methode fast mathematisch genau funktioniert, ihre Zeichen präzis gelernt werden müssen. Wie anstrengend dieses Studium ist, kann Korina Stolz-Franke nur bestätigen. Als Absolventin der Staatlichen Ballettschule Berlin tanzte sie an der Lindenoper nahezu alle Hauptparts des klassischen Repertoires. Nach Ende der Karriere 1995 besuchte auch sie die Londoner Benesh-Zentrale. Gemeinsam zeichnen sie nun alle wichtigen Werke des Staatsballetts auf und verfügen über langjährige Erfahrung.

Am besten sei es, sagen beide, wenn die Choreologin von Beginn an bei der choreografischen Einstudierung dabei ist. Dann kann sie Körperbewegung, Raumschritte und Rolleninterpretation mit Zeichen fixieren. Selbst Viertel- und Achtelnoten sind da gut eintragbar. So wird jeder Tänzer in seinem Tun notiert. Das macht bei Umstudierungen infolge Krankheit oder Neuengagement die Übertragung des jeweiligen Parts eindeutig möglich. Rund 200 dicht beschriebene Blätter halten etwa die Choreografie von »Schwanensee« fest. Kein dicker Foliant, wie man vermuten könnte, sondern eine Lose-Blatt-Sammlung: Man kann das Blatt für die einzelne Rolle herausnehmen und sie individuell mit dem »Neuen« erarbeiten. Freilich hilft dabei anfangs auch ein Videomitschnitt, der aber bei großen Gruppenszenen nicht jeden Tänzer exakt zeigt.

Ein weiterer Vorteil der Notation: Sie legt unbestreitbar das choreografische Original fest, kann unterschiedliche Versionen der einzelnen Solisten erfassen, ebenso die Kontaktgriffe beim Partnern im Pas de deux. Und: Jeder ausgebildete Choreologe weltweit kann sie lesen, was beispielsweise bei Erkrankung wichtig ist. Das ist auch bei Marzena Sobańska und Korina Stolz-Franke die Regel. Jede der beiden Choreologinnen betreut ihr eigenes Repertoire, kann aber bei Bedarf ins Repertoire der Kollegin einspringen. Bei Marzena Sobańska sind das etwa 20, teils abendfüllende Ballette, darunter zwei »Dornröschen«- und drei »Nussknacker«-Versionen. Für »La Sylphide«, »Sylvia« und »Onegin« und viele weitere steht Korina Stolz-Franke gerade. Nicht zuletzt ihrer beider Einsatz ist die stete Qualität der Aufführungen zu danken.

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