Die Grausamkeit der Hingabe

Annette Wassermann sammelt Talente junger französischer Literatur in einem Buch über die Liebe

Franzosen, die über die Liebe schreiben. Das klingt so aufregend wie die Aussicht auf ein schales Bier nach Feierabend. Aber die AutorInnen, die Annette Wassermann für den Wagenbach Verlag unter dem Titel »L’amour Toujours - Tourjours l’amour?« versammelt hat, schreiben keine Klischeegeschichten vom langen Suchen und Finden. Die kurzen Erzählungen junger SchriftstellerInnen sind in ihrer Mehrzahl desillusioniert, roh, brutal und enttäuschend. Nur wenige Geschichten handeln von zerbrechlichen Träumen und großem Begehren.

Gleich mit der ersten Geschichte »Es kommt kein Sommer mehr«, geschrieben von der 1986 in der Normandie geborenen Alice Zeniter, hat die Kuratorin den übrigen AutorInnen aber keinen Gefallen getan. Sie ist die intensivste, stilistisch wertvollste und schlaueste im ganzen Buch und lässt alles andere, was nach ihr kommt, in ihrem Schatten verwelken.

Zeniter lässt eine Biografin auf die alternde Filmdiva Anna-Livia treffen, die ihr von ihrer Liaison mit D. erzählt. Eine Liebesgeschichte, wie sie hemmungsloser und leidenschaftlicher nicht erzählt werden könnte, mit so viel Witz, Sarkasmus und Melancholie aufgeschrieben, dass das Neurotische, das jeder Liebe inne ist, umso mehr strahlt und glänzt.

Zeniter schrieb ihren ersten Roman bereits mit 16 Jahren, schrieb dann zwei weitere und für den vierten erhielt sie 2015 den Prix Renaudot. Von einer Entdeckung, obwohl noch jung, kann keine Rede sein.

Es folgen Geschichten über Eigenbrötler, die durch rote Socken zum attraktiven Geliebten werden. Die Schrulligkeit dieser Erzählung ist durch diverse französische Filme leider derart überstrapaziert, dass sie einen in keinem Moment verzückt zurücklässt. Stattdessen überwiegt eher die grausame Banalität in Sätzen, die das gemeinsame Abendessen zu festgeschriebenen Zeiten und das Seriengucken zu einem Ausdruck moderner Intimität stilisieren, ohne einen Hauch von Ironie.

Verstörend ist das, was Tristan Garcia in »Mager« beschreibt. Eine Geschichte voller emotionaler Abhängigkeiten und erlernter Grausamkeit, die sich über Generationen immer weiter fortträgt. Er seziert, was mit einem Menschen passiert, wenn Zuneigung nicht ausbalanciert, sondern benutzt wird, um Egoismen zu streicheln. Im Mittelpunkt stehen die noch minderjährige Turnerin Corina und ihr Ziehvater Léonid - ein schmieriger Ganove, keiner von der harmlosen Sorte -, der ihr einen Platz im rumänischen Olympiateam erpresst. Die Sprache ist so brachial wie das, was sie transportiert. Ein famoses Gegenstück zu Zeniter, die auch von Abhängigkeiten erzählt, aber unter gleichen.

Wassermann schreibt in ihrem Vorwort, dass die Geschichten eine verblüffende Ernsthaftigkeit beweisen, wenn es um moderne Erzählungen über die Liebe geht. Nichts an ihnen hat mit dem Klischee vom Romantizismus der Franzosen etwas gemein. Und vielleicht liegt hier der Schwachpunkt in der kuratorischen Dramaturgie des Sammelwerkes. Der Leser stürzt von einer hoffnungslosen Erzählung über Gewalt und Hörigkeit in die nächste. Vielfach geht es um Prostitution aus Liebe, es geht um Schmerzen, körperliche und seelische.

Wer das durchhält, ist begeistert, braucht aber von Natur aus einen optimistischen Glauben an die wahre, zarte und verletzliche Liebe, die auf Augenhöhe und Gleichheit beruht. Sonst lassen einen die Entwürfe, die uns Zuneigung nur in ihrer brachialsten Form präsentieren, verstört zurück. Man kann sie höchstens noch als moderne Versionen düsterer Grimmscher Märchen lesen, dann jedoch verlieren sie ihre Wahrhaftigkeit. Denn, worüber da geschrieben wird, passiert, täglich. Menschen werden enttäuscht, verlassen, ausgenutzt, missbraucht und gequält. Viele halten das gar für Liebe. Was ihnen geschieht, tut ihnen in den seltensten Fällen ein Fremder an, immer geht es um die feine Architektur von Beziehungen zu Menschen, die in einem Leben etwas bedeuten.

Auffällig nüchtern und klassisch schön ist der Einband. Eine Hommage an die Buchgestaltertradition von Édition Gallimard, bei der einige der Autorinnen bereits ihre Werke veröffentlicht haben. Ein schlichter elfenbeinfarbener Kartoneinband, eingerahmt von einem dünnen roten Kästchen aus Strichen. Das passt perfekt zum Charakter der 14 Geschichten, die er beherbergt.

Annette Wassermann (Hrsg.): »L’amour toujours - toujours l’amour?«. Junge französische Liebesgeschichten, Klaus Wagenbach Verlag, geb., 192 S., 12€.

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