Wir sind empathielos

ARD und ZDF haben es der AfD leicht gemacht

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

In ihrem neuen Buch »Regierung ohne Volk. Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert« stellt die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld fest, dass die Medien durch das Internet ihre Funktion als »vierte Gewalt« verloren haben. Eine einzige Öffentlichkeit, wie sie in vor-digitalen Zeiten existierte, gebe es nicht mehr; sie sei in »unzählige Teilöffentlichkeiten« zerfallen, in der jede Meinung und jede Information - auch die falschen - ihren eigenen Resonanzraum fänden (siehe »nd« vom 23. September).

Das ist vor allem deshalb ein Problem für die bürgerliche Demokratie, weil diese quasi »fünfte Gewalt« nicht jene Wächterfunktion erfüllen kann, wie sie den traditionellen Medien zugeschrieben wird. Der Algorithmus, der die Nachrichten aussucht, die wir in den sozialen Netzwerken zu Gesicht bekommen, ohne dafür den Aufwand der eigenen Recherche betreiben zu müssen, orientiert sich nicht an falsch oder wahr, sondern an dem Kriterium der formalen Relevanz; eine Haltung zu den Themen kann er schon mal gar nicht kennen.

Das aber darf keine Entschuldigung für das Leitmedium öffentlich-rechtlicher Rundfunk sein. Selbst im kleinsten News-Portal oder im krudesten Verschwörungsgemurmel eines Online-Forums hallt wider, was vorher in den Polit-Talkshows in ARD und ZDF debattiert wurde. Und dieser Resonanzraum, in dem Plasberg, Will, Illner und die vielen Alphatiere des Fernsehens das Sagen haben, wurde in den Wochen und Monaten vor der Bundestagswahl von AfD-Themen beherrscht. Gefühlte hundert Mal wurde hier über Flüchtlinge, »Ausländerkriminalität«, Türkei und innere Sicherheit debattiert. Dies natürlich formal ausgewogen: Neben dem AfD-Vertreter saßen auch Flüchtlingsaktivisten in der Diskussionsrunde. Jede dieser Debatten aber vergrößerte den Resonanzraum für die AfD im Internet.

Der negative Höhepunkt war das sogenannte Kanzlerduell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz, in dem es in rund der Hälfte der Sendezeit um Flüchtlinge, Migranten und die Türkei ging. Das lag nicht nur daran, dass mit dem Sat.1-Mann Claus Strunz ein Rechtspopulist auf der Seite der Fragesteller stand, sondern liegt auch an der Blindheit der Elite-Journalisten bei Themen wie Pflege, Verteilungsgerechtigkeit, Altersarmut, prekäre Beschäftigungen, befristete Arbeitsverträge oder ungleiche Bildungschancen. Blind sind sie deshalb, weil sie entweder nie von diesen Themen privat betroffen waren oder ihnen im stressigen Alltag zwischen Politikerinterviews, Hintergrundgesprächen und Moderation von Veranstaltungen der Wirtschaft die Empathie für diese Themen abhandengekommen ist.

Das Wahlverhalten der Bundesbürger, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler am gestrigen Montag in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur, sei offenbar »in sehr viel höherem Maße durch bestimmte kulturalistische Ängste bestimmt worden als durch soziale Fragen«. Die Verantwortung dafür trügen aber nicht nur die Parteien, denn diese seien darauf angewiesen, dass es einen Resonanzraum in den Medien für Themen wie soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit gebe. Zuvor hatte der Moderator die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen kritisiert, die sich in einer Talkshow nach der Wahl darüber geärgert hatte, dass viele Themen im Wahlkampf gar nicht diskutiert worden seien. Wer außer den Parteien, so der Moderator an Münkler gewandt, solle solche Themen denn sonst zur Sprache bringen?

Eine solche Frage ist dann nicht mehr Ausdruck politischer Blindheit, sondern eines systemischen Versagens.

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