Kunst kontra Kälte

20 Studenten stellen ihren Fotografien zugunsten der Bahnhofsmission aus

Eine schöne Frau, im schicken blauen Abendkleid, mit hochhackigen Schuhen. So steht sie geschminkt und frisiert in einem Lichtkegel vor der Bahnhofsmission, in der Hand eine dieser großen karierten Taschen aus Kunststoff, die von einigen Obdachlosen dazu benutzt werden, ihre wenigen Habseligkeiten trocken zu verstauen. Im Lichtkegel befindet sich auch noch ein mitgenommener Einkaufswagen, der mit Taschen und Tüten beladen ist. Drumherum in der nächtlichen Dunkelheit viele Gestalten, soweit die Gesichter noch zu erkennen sind, handelt es sich um Männer. Sie tragen alte Turnschuhe und ausgebeulte Trainingshosen. Nicht bei allen lässt sich die Kleidung identifizieren. Sie sind einfach nicht hell genug ausgeleuchtet.

Genau das trifft das Thema und noch besser den Anlass einer Ausstellung der Beuth-Hochschule für Technik und Wirtschaft. 20 Studierende der Fachrichtung »Screen Based Media« (Audiovisuelle Medien) zeigen unter der Überschrift »Lichtraum« insgesamt 100 ausdrucksstarke Fotografien. Zu sehen sind zum Beispiel Aufnahmen von schmelzendem Polareis oder der tätowierte Arm eines Obdachlosen mit einem Kreuz in der Hand. Die Fotografien werden vor Ort an Interessenten verkauft. Was bis zum 25. Oktober noch nicht an den Mann gebracht ist, wird am 26. Oktober um 19 Uhr versteigert.

Student Friedrich Bungert, der die Idee hatte, hofft auf einen Erlös um die 5000 Euro, der dann an die Bahnhofsmission gespendet werden soll. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet Bungert dort ehrenamtlich. Zunächst half er Reisenden am Hauptbahnhof beim Umsteigen. Inzwischen steht er am Einlass für die Essensausgabe am Bahnhof Zoo.

»Uns geht es darum, hinzuschauen«, erläutert er das Anliegen. »Uns geht es darum, dunkle Winkel auszuleuchten und aufmerksam zu machen auf diejenigen unter uns, die jetzt, wo es kälter wird, nicht einfach ihre Heizung aufdrehen können, weil sie schlichtweg keine Heizung und kein Zuhause haben.« Licht und Raum seien »die elementarsten Bedingungen für Fotografie oder, wenn man so will, für unsere Existenz«, erinnert Bungert. An beidem fehle es vielen Obdachlosen in Berlin. »Dafür möchten wir junge Menschen sensibilisieren, die gern mal wegschauen - oder auf ihr Smartphone.«

In der Hauptstadt leben schätzungsweise bis zu 8000 Menschen auf der Straße. In den kalten Monaten bieten die Notübernachtungen aber gerade einmal 920 Plätze. Die Not werde dann in den U-Bahnhöfen und Unterführungen sichtbar, sagt Bungert. Zur Vernissage am 15. Oktober um 19 Uhr im Kühlhaus Berlin, Luckenwalde Straße 3 in Kreuzberg, werden auch einige Obdachlose erwartet. Die Ausstellung wird bis 25. Oktober täglich von 10 bis 19 Uhr zu besichtigen sein. Der Eintritt ist frei.

Ganz begeistert ist Bahnhofmissionsleiter Dieter Puhl von dem Engagement Friedrich Bungerts und der anderen jungen Leute. Seit der Bahnhof Zoologischer Garten kein Fernbahnhof mehr ist - seit elf Jahren ist das so - hat sich die Tätigkeit der Bahnhofsmission in der Jebensstraße noch mehr auf die Betreuung von Obdachlosen verlagert. An 550 bis 700 Menschen täglich werden Mahlzeiten ausgegeben, etwa 80 Prozent von ihnen sind ohne festen Wohnsitz. »Am Anfang des Monats ist die Schlange kürzer«, erzählt Puhl. Zum Ende des Monats hin, wenn bei den Leuten das Geld knapp wird, werde die Schlange länger. Puhl berichtet von alten Damen, die nur 800 Euro Rente erhalten, aber 550 bis 600 Euro Miete bezahlen müssen. Sie kommen gerade noch zurecht - bis der Kühlschrank kaputt geht oder orthopädische Schuhe benötigt werden. Zahnersatz können sie sich sowieso nicht leisten. Sie halten in der Schlange eine Hand vor den Mund, weil sie sich wegen ihrer Zahnlücken schämen.

Die Senatssozialverwaltung habe die Anzahl der Notübernachtungsplätze in der diesjährigen Kältesaison auf 1000 aufgestockt. Doch das sei viel zu wenig, beklagt Puhl, denn es gebe inzwischen 1000 Obdachlose mehr in der Stadt. Die Bahnhofsmission bekommt vom Senat 250 000 Euro im Jahr. »Wir sind grob gesagt mit 200 000 Euro unterfinanziert«, bedauert Puhl. Er verfügt über 14 Mitarbeiter. Ohne die 150 ehrenamtlichen Kollegen im Alter von 14 bis 82 Jahren würde es gar nicht gehen. Aktuell überlegt Puhl, wo er Geld für 1000 Schlafsäcke auftreibt. Vom Spendenerlös der Fotoausstellung möchte er möglichst viele Schlafsäcke für Obdachlose kaufen.

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