Aus der Haut

Sasha Marianna Salzmann hat ein starkes Stück moderner Weltliteratur geschrieben

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 3 Min.

Bevor über den Inhalt dieses überwältigenden Debütromans zu reden ist, muss seine Sprache bewundert werden. Sasha Marianna Salzmann, seit Jahren bekannt als Dramatikerin, erzählt auf eine Weise, die noch das entfernteste Geschehen derart aufruft, dass man die Orte und Zeiten bis in die Poren der Haut zu spüren, die Menschen zu berühren, ihre Stimmen zu hören, ihre Ausdunstungen zu riechen glaubt.

Das Verwunderlichste an diesem Zauber ist die Tatsache, in welch nüchternem Bewusstsein seiner Wirkung er heraufbeschworen wird. Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren, schreibt auf Deutsch. Es sind aber nicht lediglich die in den Text gewobenen russischen Flüche und Weisheiten, die die Spur zu der Entdeckung legen, dass in ihrem Deutsch die Muttersprache der Autorin ein wesentliches Wort mitzureden hat. Es sind Sätze wie jener, in der die Erzählerin ihr Misstrauen gegenüber der »bildreichen« russischen Sprache behauptet: »Weil sie so viel besser ist als die Welt, aus der sie kommt.«

Salzmanns Erzählerin Alissa Tschepanowa, genannt Ali, kommt wie die Autorin selbst im Kindesalter als jüdischer Kontingentflüchtling aus Russland nach Deutschland, ohne zu wissen, wie ihr geschieht. Die Erzählung indessen setzt mit Alis viel späterer Ankunft in Istanbul ein, wohin sie reist, um ihren verschollenen Zwillingsbruder zu suchen. Finden wird sie Anton in dieser »Stadt außerhalb der Zeit« zwar nicht, dafür aber eine Handvoll gebrochener, dennoch aufrechter Menschen, die hier, am Rande Europas, auf der Flucht vor ihren eigenen Geschichten gestrandet sind. Und finden - oder etwa erfinden? - wird sie all die so faszinierend wahrhaftig ausgemalten Schicksale ihrer eigenen Mischpoke.

Die Wege und Irrwege der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern führen weit zurück in den Osten des Kontinents und in die Geschichte der Sowjetunion. Historie - der grausame Blutdurst des Krieges, die Selbstaufgabe in den Jahren des Aufbruchs, der Zusammenbruch des sozialistischen Weltgebäudes - fasst Salzmanns erlebendes Erzählen in einzelne Begebenheiten, die in ihrer körperwarmen Schilderung so glaubhaft sind, als seien sie einem selbst widerfahren. Das Judentum zieht sich in Gestalt arrangierter Ehen, verleugneter Nachnamen, infamer staatlicher Diffamierungen und aufflammenden Nachbarhasses durch die Generationen . Herkunft scheint all diesen Vorfahren Fluch und Segen zugleich, vor allem aber durch nichts in der Welt abzulegen zu sein - und sei das Festhalten daran noch so gewaltdurchwirkt, alkoholdurchtränkt, von Unglück durchzogen.

Und hier vollzieht sich der Bruch, für den Ali steht. Sie ist es, die als erste in ihrer Ahnenreihe aus der Haut schlüpft, aus der es doch kein Entrinnen gebe. Das Wort Ich, heißt es einmal, ist im Russischen nur »ein einziger Buchstabe in einem dreiunddreißigstelligen Alphabet. Der letzte.« Nicht zuletzt deshalb, weil Sprache diejenigen prägt, die sie benutzen, sind Alis Vorfahren darauf trainiert, sich hinten anzustellen, sich also selbst nicht so wichtig zu nehmen. Sie aber, Ali, ist es, die sich zum Entsetzen der Alten die Haare abschneidet und in Istanbul eine Frau liebt, die ein Mann werden wird. Sie ist es, die schließlich selbst zum Testosteron greift, der die Barthaare sprießen, die sich in Anton, ihren Zwilling, ihre Projektionsfläche verwandelt. »Außer sich« heißt Salzmanns Roman. Indem Ali die Hülle, die sie war, verlässt, füttert sie die Hoffnung, sich selbst zu erkennen.

Wer es für ausgeschlossen hält, dass ein Roman den Bogen durch ein europäisches Jahrhundert schlägt (bis hin zum jüngsten Putsch in der Türkei) und sich nicht daran verhebt, auch Gender- und Generationsdebatten aufzugreifen - erzählend, nicht polemisierend! -, den belehrt dieses große Buch eines Besseren.

Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Roman. Suhrkamp, 368 S., geb., 22 €.

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