Aus einer anderen Welt

Thomas Lehr ist dem Jahrhundert auf der Spur

  • Michael Hametner
  • Lesedauer: 3 Min.

Dieser Roman umfasst ein Jahrhundert, spielt aber nur an einem einzigen Tag - am 19. August 2011. Schon dieser Umstand ist außergewöhnlich - wie das ganze Buch von Thomas Lehr, dem wohl zusammen mit Büchnerpreisträger Reinhard Jirgl in Stoff- und Themenwahl, aber auch im stilistischen Anspruch, am höchsten greifenden deutschen Gegenwartsautor.

Lehrs Hauptfigur in »Schlafende Sonne« ist Richard Zacharias, Dokumentarfilmer, Philosoph, Kulturwissenschaftler, vor allem ein intellektueller Flaneur. Er reist von Japan nach Deutschland, um die Ausstellung seiner einstigen Studentin und Geliebten Milena zu sehen. Milena hat einen Namen als Installationskünstlerin, stammt aus Dresden, wo ihr Vater schon Künstler war. Der hatte die DDR verlassen, als der Druck der Stasi für ihn nicht mehr auszuhalten war. Sie lebt mit Jonas zusammen. Jonas, ein Physiker, ist die dritte Hauptfigur im Roman.

Thomas Lehr verbindet diese Gegenwart mit einer Vergangenheit, die weit über die Leben der drei Figuren hinausreicht in das 20. Jahrhundert. Dazu hat der Autor eine überraschende Konstruktion zum Erzählen gefunden. Die Figuren verhalten sich wie Sonnenreflektoren, die in der Lage sind, vor langer Zeit ausgeschickte Strahlen zu empfangen. Der Roman beginnt mit einem Satz, der nach Sonne, Mond und Sternen greift: »Dein Stern, Jonas, nähert sich als fahles Licht, das in die Straßen fällt wie Staub aus einer anderen Welt.«

Aus einer anderen Welt zu sein - das ist Lehrs Denk- und Schreibanspruch. Der Autor, der in diesem Jahr sechzig wird, kam zum Schreiben aus einem wissenschaftlichen Beruf. Nach dem Studium der Biochemie hat er als Programmierer gearbeitet. Wie sehr er die Nähe zwischen Wissenschaft und Literatur nutzt und sich darin als Erzähler auch sicher zu bewegen weiß, zeigte 2005 sein vierter Roman »42«. Damals bereits ließ Lehr erkennen, dass er für den Erkenntnisgewinn der Literatur auch die Wissenschaft haben will. Er ist ein Schriftsteller, der nach universaler Welterkenntnis sucht und es versteht, Fiktion mit Historie und Wissenschaft zu verbinden. Er erfindet, dokumentiert, überblendet, verwirbelt. Er schneidet unterschiedliche Welten und Weltsichten ineinander und kommt damit dem Jahrhundert in seiner Universalität auf die Spur. Zumindest fürs Erste - es wird ein Zweites und Drittes geben, denn der Roman schließt mit dem Satz »Wird fortgesetzt«.

Das Erzählen in »Schlafende Sonne« setzt 1914 ein mit dem Ersten Weltkrieg und den blutigen Schlachten, setzt sich fort in der Zeit des Nationalsozialismus, betrachtet die Geschichte der deutschen Teilung und lässt auch Israel als Rettungsort nach dem Zweiten Weltkriegs nicht aus. Das ist ein literarisches Maximalprogramm, sicher. Aber der Autor ignoriert nicht die Ansprüche seiner Hauptfiguren und seiner Leser. Die Figuren wollen selbst in einem historisch und wissenschaftlich ausgerichteten Koordinatensystem erzählt werden als Liebende, Hassende, Träumende. Und das gelingt!

»Schlafende Sonne« ist nicht nur ein Epochen- und Wissenschaftsroman, sondern genauso ein Liebesroman - aber in einer großartigen Verschmelzung. Vor lauter Sonnenphysik eines Karl-Otto Kiepenheuer und Edmund Husserls Phänomenologie wird auf Sex nicht verzichtet. Lehrs Roman ist übervoll an Anspielungen in beide Richtungen (nämlich Physik und Philosophie), aber er erstickt daran nicht. Man muss »Schlafende Sonne« nicht als Unterhaltungslektüre ausgeben - beileibe nicht -, aber wenn man als Leser nicht jede Anspielung sofort entschlüsseln will, gibt es sogar Leichtigkeit. Dazu kommt - was will man mehr - die Anziehungskraft einer virtuosen Sprache.

Thomas Lehr: Schlafende Sonne. Roman. Hanser, 640 S., geb., 28 €.

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