Brücke der Versöhnung

Im Kino: »Die Unsichtbaren - Wir wollen leben« von Claus Räfle

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Manchmal erzählen auch Zahlen eine Geschichte. Etwa die Zahl 1700. So viele Juden überlebten die Nazizeit in Berlin, versteckt von nicht jüdischen Bekannten oder sogar völlig fremden Menschen. Diese halfen ihnen, als 1942 die massenhafte Deportation begann, nicht nur einige Tage lang, sondern zwei oder drei Jahre. In ganz Deutschland waren es 5000 Menschen, die in Verstecken überlebten, während 165 000 deportierte deutsche Juden ermordet wurden.

Aber was heißt das: abtauchen, sich in Verstecken unsichtbar machen? Vor allem, niemals auffallen, immer in der Gefahr schweben, plötzlich doch erkannt und verhaftet zu werden. Auf einer anderen Lebensmittelkarte mitzuessen, jahrelang. Ebenso bedeutet es, völlig isoliert zu sein, keinen Kontakt mehr zu früheren Freunden zu haben, denn auch einige von der Gestapo erpresste Juden arbeiteten als »Greifer«, wie jene Stella Goldschlag, die Hunderte anderer Abgetauchter verriet, um ihre Eltern vor der Deportation zu schützen (eine Illusion, sie wurden dennoch deportiert). Auch diese Stella kommt im Film vor, ein Opfer, das zum Täter wird.

Was passiert mit Jugendlichen, die beständig in der Illegalität leben müssen? Verlieren sie nicht - wenn sie denn überleben - dabei jeden Glauben an die Menschen? Und wie denken sie heute über die Deutschen - die einen, die sie umbringen wollten, und die anderen, die sie davor beschützten?

Claus Räfle hat mit »Die Unsichtbaren« einen Film gedreht, der zweierlei ist: Dokumentar- und Spielfilm zugleich. Aber eben nicht bloß einen dieser inflationär gewordenen, mit Spielszenen animierten Dokumentarfilme, sondern einen Spielfilm, der einen eigenen Atem besitzt, in den sich die dokumentarischen Szenen gleichsam organisch einfügen, eben weil sie ein und dieselbe Geschichte erzählen.

Um vier Lebensgeschichten von abgetauchten jungen Berlinern kreist der Film. Räfle nutzte dazu Interviews, die er vor zehn Jahren für einen Dokumentarfilm zu »Salon Kitty« führte. Die vier sind zwischen siebzehn und zwanzig Jahre alt, ihr Lebenswille ist so groß, dass sie sich dem Deportationsbefehl entziehen und sich unauffällig machen. Denn außer dem Judenstern, den sie zu tragen gezwungen wurden, unterscheidet sie doch nichts von anderen Berlinern in der immer häufiger bombardierten Stadt.

Wer glaubt, über das Thema Judenverfolgung schon ausreichend informiert zu sein, wird sich nach diesem Film eingestehen müssen, dass er sehr vieles nicht wusste. Wie absurd der Rassenwahn der Nazis war, zeigen die Details aus dem Alltag der Abgetauchten. Noch einmal die Frage: Können diejenigen, die jahrelang nach den Regeln der Kon᠆spiration in der Illegalität leben, überhaupt jemals wieder anderen Menschen vertrauen?

Die überraschende Botschaft der vier Zeitzeugen lautet übereinstimmend: Ohne Vertrauen gewagt zu haben, hätten sie niemals überlebt. Da ist Hannah Lévy (eindringlich: Alice Dwyer), siebzehn Jahre und Vollwaise; heute lebt sie in Paris. Damals stand sie plötzlich auf der Straße, ohne Geld und Bleibe; wenn sie in eine Polizeikontrolle geriete, hieße das unweigerlich Deportation. Mit ihrem letzten Geld färbt sie sich die Haare blond, geht auf dem Kurfürstendamm spazieren - und immer wieder ins Kino, immer wieder in die gleichen Filme. Da fühlt sie sich eine Zeit lang sicher. Sie weiß, lange hält sie dieses Leben auf der Straße, das man ihr nicht ansehen darf, nicht durch. Von einer Kassiererin angesprochen, offenbart sie sich - und das Wunder passiert.

Die einfache Berlinerin, deren Sohn gerade als Soldat eingezogen worden war, nimmt sie mit zu sich nach Hause, gibt sie den Nachbarn gegenüber als ihre Nichte aus - und so überlebt Hannah Lévy unerkannt bis zur Befreiung. Cioma Schönhaus (Max Mauff) gelingt es, seine Angst in eine tollkühne Frechheit zu verwandeln. Er fälscht systematisch Pässe, hat Kontakt mit dem Elektriker Werner Scharff (Florian Lukas), der im Gebäude der Jüdischen Gemeinde weiter Dienst tun muss, obwohl sich dort inzwischen die Gestapo eingerichtet hat. Dieser hört, dass nun auch die letzten Juden aus Berlin deportiert werden sollen, Goebbels will 1943 die »judenreine Stadt« - und Scharff taucht ebenfalls ab.

Cioma verdient mit den Pässen viel Geld - er denkt nicht daran, sich zu verstecken, isst in den teuersten Restaurants und kauft sich ein Segelboot auf dem Wannsee. Wenn ihn jemand fragt, wer er sei, hat er immer eine überzeugende Geschichte parat. Ein fast normales Paralleleben also, die falsche Identität scheint beinahe schon alltäglich geworden. Dann läuft er jener Greiferin Stella Goldschlag, die Cioma aus besseren Zeiten kannte, in die Arme. Als er sie zu sich einladen will, entgegnet sie, ob er auch sicher sei, keinen Fehler zu begehen - er versteht blitzartig und verschwindet. Später nannte er es einen Liebesdienst jener Stella, ausgerechnet ihn nicht zu verraten. Doch das ist nicht die einzige lebensgefährliche Situation, in die er gerät.

Wir blicken in einen so kaum für vorstellbar gehaltenen Alltag der Illegalität, wo einfache Berliner zu Helden werden, die den Trägern von Judensternen aus Solidarität Zigaretten zustecken oder sie sogar bei sich aufnehmen. Wir erleben aber auch die kleinen Funktionsträger des Systems wie Straßenbahnschaffner oder Hauswarte, die sich als Herren über Leben und Tod aufspielen. Räfle über den von ihm bewusst gewählten Stil des Films: »Wir wollten eben nicht den typischen NS-Look haben. Die von den alten Menschen erzählten Geschichten sollten fast schon etwas Fabelartiges haben.«

Da ist auch Ruth Gumpel, die nach dem Krieg in die USA auswandert. Sie überlebt im Hause eines Wehrmachtsoffiziers in Wilmersdorf, der einen illegalen Handel mit Alkohol und Delikatessen betreibt. Welch absurde Wege das Schicksal bei der Rettung eines Menschen oft geht!

Die in Verstecken überlebten, hatten später keinen Hass auf die Deutschen im Ganzen. Eine Brücke der Versöhnung, über die nachwachsende Generationen gehen konnten.

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