Er mäandert wieder. Oder immer noch?

»Wer war Hitler« - ein kinematographisches Epos von Hermann Pölking

Es hitlert wieder mächtig in deutschen Landen. »Er« mäandert durch die Gesellschaft. Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Friedhöfen, aus Straßenpflaster gerissene Stolpersteine, Erinnerungskultur schmähende sowie Eroberungs- und Vernichtungssoldateska lobende »Politiker«, Jagd auf Ausländer, Brandsätze in Flüchtlingsheimen - was ist los, in Deutschland? »Eine gewisse Verwandtschaft zwischen Hitler und dem deutschen Volk lässt sich nicht abstreiten«, registrierte dereinst der französische Botschafter Robert Coulandre. Sind wir wieder so weit? Was ist faul im Staate Deutschland? Haben und dulden wir zu viel Hitler?

Die Hinterlassenschaft des Guido Knopp geistert noch durch mehrere TV-Kanäle. In den letzten fünf Jahren erschienen außer der historisch-kritischen Edition von »Mein Kampf« sieben Hitlerbiografien, knapp unter oder gar über tausend Seiten umfassende; im vergangenen Jahr kam eine von Thomas Weber (»Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde«) sowie von Hermann Pölking heraus: »Wer war Hitler« (be.bra, 784 S., 36 €). In diesem Jahr gesellte sich hierzu eine nicht weniger voluminöse aus der Feder des stramm rechtskonservativen Historikers Rainer Zitelmann.

»Wer war Hitler« fragt gleichfalls ohne Fragezeichen ein sich auf Pölkings Buch stützender, nach dessen Drehskript produzierter Film, den es in einer zweistündigen Kino- und siebeneinhalbstündigen Festivalfassung gibt. Der 1954 in Bremen geborene Publizist ist nicht der Ansicht, dass Hitler »auserzählt« sei. Kinematographisch habe sein dokumentarisches Opus magnum zudem nur zwei Vorgänger: Erwin Leisers »Mein Kampf« (1960) und Joachim Fests »Hitler - Eine Karriere« (1977). Auch Filmproduzent Thorsten Pollfuss ist von der Legitimität des neuen Hitler-Streifens überzeugt: »Das Thema ist leider aktueller denn je«, lässt er per Pressemitteilung wissen. »Wir leben in Zeiten, in denen der Populismus überall um sich greift, in der nationalistische Bestrebungen überhandnehmen, in der Minderheiten offen angefeindet werden ... Die damaligen Vorgänge sind in erschreckender Weise eine Blaupause dessen, was sich momentan abspielt. Haben wir nichts aus unserer jüngeren Geschichte gelernt?« Eine berechtigte Frage. Wie antwortet der Film darauf? Gar nicht. Höchsten indirekt.

Zunächst einmal ist man freilich beeindruckt von dem in immenser, akribischer Fleißarbeit zusammengetragenen historischen Material. Das betrifft sowohl die Zitate von Zeitzeugen wie die Originalaufnahmen aus jener Zeit, die nicht nur sattsam bekannte Szenen von Hitler und seiner Entourage auf Wahlkampftour oder auf dem Obersalzberg, mit Generälen am Kartentisch oder Architekten vor den Modellen für »Germania« und die geplante Altersresidenz in Linz zeigen. Natürlich fehlen auch hier nicht der leutselig die Wange eines kleinen Mädchens tätschelnde oder mit seinen Hunden spielende Diktator, die sich turnend fit haltende Eva Braun und die jubelnden Massen. Beredt sind die bewusst gewählten Bild-Text-Kontraste und scharfe Schnitte. Idyllische Urlaubsbilder einer »arischen« Familie mit sieben blondschopfigen Kindern an der Ostsee werden durch ein Zitat aus Primo Levis Report »Ist das ein Mensch?« konterkariert; der Holocaustüberlebende beschrieb die Fürsorglichkeit einer jüdischen Mutter um ihre Kinder auf dem Weg in die Todesfabrik Auschwitz. Die zeitgenössischen Kommentare zum Hitler-Ludendorff-Putsch untermalen eine alkoholisierte Runde in einem bayerischen Biergarten, Blasmusik und Schuhplattler. Im Englischen heißt der schon in München gescheiterte »Marsch auf Berlin« von 1923 »Beer Hall Putsch«.

In der Tat ist dies eine Biografie, wie sie noch nie erzählt worden ist. Ausschließlich aus der Sicht von Dabeigewesenen, Deutschen aus fast allen sozialen Schichten und politischen Strömungen, von Mitläufern, Mittätern, Opfern und Oppositionellen, aber auch ausländischen Staatsmännern und Feldherren. Aus 400 Monografien und Memoiren schöpfte Pölking, darunter (wie Knopp) aus den Erinnerungen von Hitlers Sekretärinnen und Adjutanten.

Überraschend der filmische Einstieg. Māori-Frauen singen: »Kehr’ doch heim, zur Liebsten dein ...« Hernach bekunden tanzend die Männer: »Lass’ die Erde erbeben ...« Eine - im Film äußerst rare, stets knappe - Erläuterung informiert, dass ein erstes Bataillon kriegsfreiwilliger Neuseeländer sich im Mai 1940 nach Schottland einschiffte und vier Jahre später in der Hölle bei Monte Casino kämpfte. Am vergangenen Sonntag beging Großbritannien übrigens den Remembrance Day, an dem alljährlich den Weltkriegsteilnehmern des Commonwealth gedankt wird.

Zu Filmende tanzen Rotarmisten in Berlin. Alle Kapitel werden mit einem griffigen Zitat eröffnet. Klara Hitler sagt über ihren Sohn: »Er ist doch aus der Art gefallen.« Alfred Kerr ist präziser: »Hitler, das ist der Mob, der Nietzsche gelesen hat. Das ist Mussolini im Ausverkauf.« Neue Details sind nicht zu erfahren. Bestätigt wird, dass Hitlers ein schlechter Schüler war (außer in Zeichnen und Turnen), ein Tunichtgut und Taugenichts, dass er »überwältigt von stürmischer Begeisterung« in Weltkrieg No. 1 zog, seine politische Karriere im Münchener Hofbräuhaus begann (»Ich aber beschloss, nun Politiker zu werden«) und er von einem unnatürlichen Selbst- und Sendungsbewusstsein erfüllt war (»Ich glaube, mein Leben ist der größte Roman der Weltgeschichte«; »Ich gehe mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg, den mich die Vorsehung gehen heißt«). Berichtet wird, wie ihm auf dem rechten Auge blinde Demokraten den Weg an die Macht ebneten und der Reichskanzler von argar- und großindustriellen Gnaden die Verfassung mit der Verfassung außer Kraft setzte. »Röhm-Putsch«, Nürnberger Rassegesetze, Novemberpogrom, Münchener Abkommen, West- und Ostfeldzug, Wannseekonferenz, Euthanasiemorde - fast nichts fehlt. Man vermisst das Treffen des blaublütigen Herrenreiters Papen mit Hitler im Haus des Bankiers Schröder am 4. Januar 1933 in Köln, Geburtsstunde des »Dritten Reiches«. Ansonsten: Der Ideologe, Führer, Mörder, Brandstifter, Biedermann - getreu dem Buch versucht der Film alle Facetten Hitlers auszuleuchten und wiederholt den Fauxpas, die Jahre 1922/23 mit »Ein Revolutionär« zu überschreiben.

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 fragte sich Klaus Mann im Exil: »Ist er toll, dieser Hitler?« Und antwortete: »Ja, er ist toll. Gott sei Dank.« Das mag widersinnig klingen. Jedoch: Antifaschisten aller Nationen glaubten und hofften, dass der Eroberer sich nun das Genick breche. Und mussten noch vier mörderische Jahre erleiden. Erschütternd die Aufnahmen von Massenexekutionen an Juden in den besetzen sowjetischen Gebieten, von in Lagern elend krepierenden Rotarmisten und den nur noch aus Haut und Knochen bestehenden Kindern im Warschauer Ghetto. Ja, dieser Film ist Anklage und Mahnung. Aber wirkt wohl als solcher nur bei jenen, die menschlich fühlen, politisch sensibilisiert sind. Als reiner Kompilationsfilm, ohne Wertung und Urteil, erscheint er riskant-neutralistisch, Hitlermanie eher befeuernd. Gewiss, diese würde ein publizistisches (in der DDR praktiziertes) Verbot von Hitlerbildern nicht zwangsläufig vorbeugen. Warum aber gibt es kein filmisches Epos über den gesamten deutschen Widerstand gegen Hitler & Co.? Das wäre sinn- und identitätsstiftend. Buchvorlagen sind auf dem Markt, erfahren indes kaum Aufmerksamkeit.

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