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Die Seele lässt sich nicht einfach neu formatieren

Elvira Dones erzählt vom albanischen Gewohnheitsrecht der »Schwurjungfrauen« und von den Schwierigkeiten, sich daraus zu befreien.

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf dem Flug in die USA berichtet Hana Doda einem fremden Reisegefährten von ihren Schreibversuchen. »Dann sind Sie also Dichter, Herr Doda«, erwidert dieser. Moment, wieso spricht er von einem Herrn, haben wir nicht gerade gelesen, es handele sich um eine Frau?

• Elvira Dones: Hana. Roman.
A.d. Ital. v. Adrian Giacomelli. Ink Press 250 S., br., 18 €.

Nein, es ist kein Fehler. Die ersten Zeilen in Elvira Dones’ Roman spiegeln die tiefe Zerrissenheit eines Menschen mit einem unglaublichen, geradezu surreal anmutenden Schicksal.

Es begann vor Jahrzehnten in den albanischen Bergen, wo in archaischen Lebensverhältnissen ein Gewohnheitsrecht überlebt hat, das es Frauen ermöglicht, in Manneskleider zu schlüpfen und ihrer Sexualität abzuschwören. Genau das ist Hana passiert. Sie trägt Herrenjackets, nennt sich Mark, raucht Kette, schießt auf der Jagd, trinkt, flucht und flüchtet sich vor Gefühlen in die grobe Sprache der Männer aus den Clans der heimatlichen Berge, mit denen sie zusammen gelebt hat. Ebenfalls als Mann. Der jetzt wieder eine Frau werden will und eine Dichterin, ja. Doch zu diesem Zweck muss »Er« aus Albanien verschwinden. Und »Sie« darf nie mehr zurückkehren.

Denn obgleich Hana sich dem anderen Geschlecht lediglich äußerlich angepasst hat, merkt sie bald nach ihrer Übersiedlung zur Cousine in Washington, dass es nicht damit getan ist, die Männersachen mit Frauenkleidern zu tauschen, wenn man sein eigentliches Geschlecht mit all seinen sozialen Bezügen zurückerobern möchte. Anderthalb Jahrzehnte hat Hana versucht, ihr eigentliches Lebensziel, die Beschäftigung mit Literatur, zu vergessen. Sie hat ihre Sexualität unterdrückt, ihre Gewohnheiten verändert, Erinnerungen an ihren Alltag als Studentin in der Hauptstadt Tirana tief in ihrem Innersten vergraben und die Sehnsucht nach einem Menschen, der sie versteht oder gar liebt, gar nicht erst aufkommen lassen. Jetzt, da die Gefühle sich Bahn brechen dürften, bleiben sie aus. Das lässt Hana fast verzweifeln. Sie kann eine gute Arbeit finden, sie lernt erfolgreich die Sprache, doch ihr gesamtes mentales Gefüge wehrt sich gegen den erneuten Eingriff, der ihre Seele neu formatieren will. Der Mensch ist kein Computer, er hat keine Reset-Taste. Erst als Hana sich ihrer Vergangenheit stellt, ihre Geschichte erzählt und Hilfe annimmt, kann sie ihr Ich langsam als Frau zurückerobern.

Elvira Dones, gebürtige Albanerin, hat eine Erzählweise zwischen Rückblick und Neustart gewählt und so den schweren Weg der Protagonistin mit all seinen Rückschlägen nachvollziehbar gemacht. Sie hat sich schon länger mit den sogenannten Schwurjungfrauen aus Albanien beschäftigt, von denen bis heute einige existieren sollen. Sie geben ihre geschlechtliche Identität auf, wenn es kein Familienoberhaupt mehr gibt, das sie vor männlichen Übergriffen beschützen kann, und erklären sich selbst zu einem Mann. Dies wird dann von der Dorfgemeinschaft akzeptiert, so sieht es der Kanun, das überlieferte Regelwerk, vor. Allerdings kennt dieser Kanun kein Zurück aus dem maskulinen Dasein, dafür die Blutrache.

Aus Dankbarkeit gegenüber ihrem sterbenden Onkel, aus Liebe zu ihm hat Hana diesen Weg beschritten. So konnte er ohne Angst um seine Nichte die Augen schließen, und sie musste keine Furcht vor Gewalt haben - sowohl in einer Ehe als auch unverheiratet, was sie in dieser Umgebung zum sexuellen Freiwild gemacht hätte.

Dones’ Buch - italienisch geschrieben - erschien 2007 bei Feltrinelli in Mailand. Es wurde verfilmt und hatte 2015 auf der Berlinale Erfolg. Dank Ink Press Zürich und der Unterstützung durch eine Schweizer Kulturstiftung erschien die beeindruckende Geschichte jetzt auf Deutsch.

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