Heißa! Schön war die Zeit!

Die Performancekunstgruppe Throbbing Gristle hat vor 40 Jahren den Industrial erfunden

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.

In Zeiten von Neonaziwahlerfolgen, Deppenfernsehen und wachsender allgemeiner Aug- und Martensteinisierung ist es angebracht, wieder einmal daran zu erinnern: Es gab und gibt ein musikalisches Universum jenseits von Andreas Gabalier, Helene Fischer, Beyoncé und Foo Fighters. Eines, in dem es nicht primär um Musik geht, nicht um kommerziellen oder ideellen Erfolg, nicht um Entertainment, nicht um heimattümelndes Volksfestgejodel, nicht um R&B-Soul-Pop-Schlager-Eklektizismus und auch nicht um den guten, alten schmierigen Männer-, Mitsing- und Fäusteballrock. Eines, in dem Zerstörung, gelebtes Psychopathentum, Krieg, Faschismus und industrieller Massenmord, die Lieblingstätigkeiten des Menschen im 20. Jahrhundert, nicht ausgeblendet, sondern zum Gegenstand künstlerischer Praxis wurden. Im Zentrum dieses Universums findet man das 1975 gegründete britische Performancekunst-Quartett Throbbing Gristle.

Dessen Debütalbum, das den schönen Titel »The Second Annual Report« trägt, erschien 1977 in einer Auflage von 785 Stück auf dem Label »Industrial Records«, vor 40 Jahren also, zu einer Zeit, als dem Punkrock - schon kurz nach seinem Entstehen - bereits erste Verwesungsgerüche entwichen.

Auf dieser Platte hören wir weißes Rauschen, kaputte Alarmsirenen, monotones Bassgebrumme, Science-Fiction-Gespratzel und -Gewimmer, Radiosalat, Lautsprecherpfeifen, -knarzen und -knurpseln in allen Varianten, teils schwer verständliche, teils bewusst kryptisch gehaltene Textfetzen, wie von Geisterstimmen ausgesprochen, inklusive unmotiviertes Geschrei und Gekeife, das meiste davon live aufgenommen. Kurz: Es ist eine Feier des Neinsagens in musikalischer Form.

Ein neuer, beunruhigender Sound war entstanden, dem man das Etikett »Industrial« gab. Heute ist diese einstige Anti-Musik nur eine Sparte unter vielen im sterbenden Popgeschäft: Bizarre Geräuschkunst für Menschen, die sich vom Pop-Einerlei eines vollständig verödeten Musikmarktes längst verabschiedet haben.

Auf den frühen Plattencovern von Throbbing Gristle waren keine strahlenden Gesichter, keine bonbonbunten Popwelten abgebildet, sondern gefängnisähnliche Kasernenbauten, verfallende Industriegebäude, Zyklon-B-Dosen in tristem Schwarzweiß. Heißa! Schön war die Zeit, als der industrielle Massenmord der Kulturindustrie ein fröhliches Grüßgott zuwarf.

Von einem Politiker wurden Throbbing Gristle, weil sie in ihrer Kunst die vom Menschen zugerichtete und verwüstete Welt nicht, wie von Politikern gewünscht, als fröhliches Spaßparadies und Konsumidyll, sondern als ein tiefschwarzes Panorama zeichneten, einmal als »Zerstörer der Zivilisation« beschimpft. Dabei zeigte die Gruppe ja nur das, was die Zivilisation so alles hervorgebracht hat: einlullende Supermarkteinkaufsmusik auf der einen, Massenerschießungen und -vergewaltigungen auf der anderen Seite. Throbbing Gristle thematisierten das Tabuisierte, das Verdrängte, den Abgrund, den man erblickt, sieht man einmal genau in die Menschen hinein. Von Gründungsmitglied Genesis P-Orridge ist die Aussage überliefert, Throbbing Gristle interessierten sich für jene Grenze, an der »Unterhaltung zu Schmerz und Schmerz zu Unterhaltung wird«.

Doch es geht »auch sehr stark um das Organische«, sagte der Kulturwissenschaftler Uwe Schütte kürzlich dem Deutschlandfunk. »Throbbing Gristle haben es sehr erfolgreich geschafft, diese Art von Fäulnisgestank, Verwesung und organischem Zerfall auch noch im Medium dieser damals noch neuen elektronischen Musik hörbar und erfahrbar zu machen.«

Die ebenso traditionsreiche wie verdienstvolle Plattenfirma Mute hat sich vor einiger Zeit dazu entschlossen, im Lauf der nächsten Jahre alle Werke von Throbbing Gristle wiederzuveröffentlichen. Man mag nun einwenden, dass damit diese einst so radikale und unversöhnliche, den so verlogenen Leitsatz vom Menschen als Krone der Schöpfung negierende Musik sowohl musealisiert (Reklameprosa: »Heute gelten Throbbing Gristle zu Recht als die wichtigsten Vertreter der klassischen Industrial Music«) als auch zur reinen Konsumware (Reklameprosa: »limitierte Edition auf weißem Vinyl im Original Packaging«) für distinktionsbedürftige Popschnösel gemacht werde. Und das stimmt ja auch. Die Modezeitschrift »Vogue« etwa, die 1977 ganz gewiss die Finger von Throbbing Gristle und deren irritierenden Krachpotpourris gelassen hätte, schreibt heute, sich als Bescheidwisser und kennerhaft gebend: »Hier liegt die Wurzel dessen, was Depeche Mode bis heute produzieren.«

Trotzdem ist die Nachricht von der Wiederveröffentlichung dieser Alben eine gute Nachricht in einer von der Schlechtigkeit beherrschten Welt.

Throbbing Gristle: »The Second Annual Report« (Mute)

Throbbing Gristle: »20 Jazz Funk Greats« (Mute)

Throbbing Gristle: »The Taste of TG: A Beginner’s Guide To Throbbing Gristle« (Mute)

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