Begegnung zu Weihnachten
Die gesammelten Briefe des preußischen Genius Wilhelm von Humboldt eröffnen neue Sichtweisen
Briefe schreiben, Briefe lesen: In Zeiten der Twitter-Tipper eine nostalgische Erinnerung. Verlustwahrnehmung eines möglichen Gewinns. Briefe schreiben war immer zugleich Selbstverständigung, das Bewusstsein erweiternde Mitteilung, Seelenöffnung der Herzhirneinheit und nicht zuletzt mitunter Arbeits-Blattform.
Einer der passioniertesten Tagesschreiber war Wilhelm von Humboldt. Er hat einen riesigen Briefkorpus hinterlassen. In der großen Korrespondenz-Edition des Verlages De Gruyter sollen etwa 5000 Schreiben des preußischen Diplomaten, Universitätsgründers und Sprachwissenschaftlers zugänglich gemacht werden. Die Edition wertet den in der Öffentlichkeit etwas verblassten Bruder des gut rezipierten Alexander von Humboldt enorm auf.
Die Abteilung I (Jugendbriefe, Brautzeit, erste Ehejahre), von dem Heidelberger Germanisten und Herausgeber Philip Mattson philologisch vorzüglich erschlossen, hat es bisher auf drei Bände gebracht. Sie lesen sich wie ein Logbuch der Sinnsuche. Der just erschienene dritte Band umfasst die Jahre 1795 bis 1797, die Humboldt auf dem väterlichen Gut Schloss Tegel zugebracht hat. Sie markieren eine Wende in seinem Leben, die einhergeht mit dem Schaffen Friedrich Schillers. Einerseits wollte Humboldt stärker öffentlich wirksam werden, andererseits konnte er dem Drang zu philosophischen Exkursen nicht mehr widerstehen; und da war ihm Schiller ein unübertroffener Partner.
Weihnachten 1789 war Humboldt dem Dichter der »Räuber« und des »Lied an die Freude« in Weimar zum ersten Mal begegnet. Was sich ganz unspektakulär anließ. Humboldts Verlobte, Karoline von Dacheröden, war eng befreundet mit den beiden Schwestern von Lengefeld, und da die jüngere, Charlotte, Schillers große Liebe, Heiligabend nicht in provinzieller Abgeschiedenheit verbringen wollte, nahm das erlebnishungrige Quartett die beschwerliche Reise auf sich. Ein folgenreiches Treffen zweier junger, überaus inspirierter Leute, Humboldt 22, Schiller 30 Jahre alt. Der Auftakt einer lebenslangen Vertrautheit. Impuls auch für den weniger intimen, aber ebenso anregenden Briefwechsel mit Goethe.
Humboldt hatte sich zuvor am Berliner Kammergericht mit Kriminalfällen befassen müssen, einer Kindsmörderin etwa oder einem Brandstifter - eine schreckliche Tätigkeit, was ihn bewog, sich in die Einsamkeit, aufs Gut des Schwiegervaters nach Burgörner im Mansfelder Land zurückzuziehen. Selbstbestimmte Studien der griechischen Antike waren ihm lieber als der Staatsdienst.
Im Februar 1794 wählt er Jena als Wohnort, um an der Seite Friedrich Schillers zu leben. Zurück in Berlin fehlt ihm der geistige Kontakt. »Es war eine so schöne Gewohnheit, täglich ein Paar Stunden mit Ihnen zu plaudern«, schreibt er in seinem ersten Brief aus Tegel. Schiller lässt ihn nicht auf dem Trockenen sitzen. Er schickt seinen Aufsatz »Briefe über die ästhetische Erziehung« und bittet um sein Urteil. Sie waren zur Veröffentlichung in der literarischen Monatszeitschrift »Die Horen« bestimmt. Schillers Auffassung, dem Empfinden von »Schönheit« eine verbindende Kraft »auf die Vermehrung der Einsicht u. die Verbesserung der Gesinnung anzuweisen«, entsprach ganz Humboldts Streben nach individueller Vollkommenheit oder zumindest würdevollem Ausgleich. Er lobt die bewundernswürdige Leichtigkeit, mit der Schiller »das ganze Gebiet des menschlichen Geistes« zu vermitteln vermag, merkt aber dennoch an, dass ihm die »Bestimmung … der menschlichen Freiheit« in diesem Zusammenhang dunkel geblieben sei. Überhaupt ist Humboldt bei aller Verehrung des Dichters ein einfühlsamer und genauer Kritiker.
Aber Schiller hatte nicht nur mit des Verlegers Cotta Hilfe »Die Horen« aus der Taufe gehoben, sondern auch einen jährlichen »Musenalmanach«. Humboldt organisiert und überwacht, wie bei den »Horen«, in Berlin den Druck der Ausgabe für das Jahr 1796 - »mein adoptiertes Kind«, schreibt er. Fast täglich wechseln die Briefe. Nicht nur Korrektur- und Gestaltungsfragen kommen zur Sprache. Humboldt »raisonniert« ausgiebig über Schillers Gedichte, deren poetische Eigenart. Er ist ein Experte im metrischen Maß und wird, was kaum jemand weiß, eine Art Mentor für Schillers Gedankenlyrik.
Nach der Lektüre dieser Briefe wird man Schiller in einem anderen Licht sehen und die »Weimarer Klassik« ohne Wilhelm von Humboldt nicht mehr denken können. Die intensive Korrespondenz, auch mit Goethe, mit dem bedeutenden Gräzisten Friedrich August Wolf, Karoline Rahel, dem Dresdner Dichterfreund Gottfried Körner und vielen anderen, leitet ein weitgefächertes geistiges Vorhaben Humboldts ein: die Charakterstudien, die ihn zur Sprache als Produkt und gleichzeitig Stimulanz des Nationalcharakters führen. Er beschäftige sich damit, den »Charakter der Zeit, insbesondre der unsrigen« zu erfassen, schreibt er an Körner. Ein »ungeheures Unterfangen«, das nur gelingen könne, wenn man sich »in den Mittelpunkt derselben« versetzt. Das Fundament für seine künftigen Untersuchungen ist gelegt.
Wilhelm von Humboldt. Briefe 1795 - 1797. Hg. v. Philip Mattson. Verlag De Gruyter, 656 S., geb., 149,95 €.
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