Gemeinsame Interessen statt Abgrenzung

Die Arbeiterklasse ist nicht nur weiß, nicht nur männlich, nicht nur heterosexuell und trinkt nicht nur Bier. Eine Entgegnung auf Christian Baron

  • Sophie Dieckmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Da ist sie wieder – die weltoffene akademische Mittelklasse. Sie ist der »politisch dominante... Gewinner des Wirtschaftsliberalismus«; frei von Existenzsorgen passt sie sich nie dem Mainstream an, sondern »lebt ihren Zwang zur Einzigartigkeit« und – man lese und staune – »kolonisiert« dabei die »Besonderheiten der Arbeiterklasse«. Die »neue Mittelklasse« umfasst »urbane CDU-Wähler« ebenso wie »Anhänger von SPD und FDP sowie Leute aus dem grün-alternativen Milieu« – und Katja Kipping. So beschreibt es Christian Baron in seinem Artikel »Abgrenzung statt Solidarität – Wie die weltoffene Mittelklasse die herrschende Wirtschaftsordnung stabilisiert« und zitiert dabei zustimmend aus dem neuem Buch des Viadrina-Professors Andreas Reckwitz »Die Gesellschaft der Singularitäten«.

Wer so leichtfertig Parteivorsitzende der LINKEN mit CDU- und FDP-Wählern in einen Topf wirft, sollte Antworten auf die Frage parat haben, was denn diese sogenannte »neue Mittelklasse« ausmacht. Neben dem Hochschulabschluss und dem städtischen Wohnort ist es laut Baron die Tatsache, dass diese Klasse »bislang von der Globalisierung ausschließlich profitiert« habe. Münden würde dieser Umstand in die Forderung nach offenen Grenzen für alle. Sehen wir einmal davon ab, dass DIE LINKE bisher die einzige Partei ist, die sich in ihrem Programm für offene Grenzen einsetzt, und auch das »nur« für Menschen in Not, während alle anderen Parteien den Asylrechtsverschärfungen der jüngsten Zeit zugestimmt haben, und blicken auf Barons Argumente.

Seine Unterscheidung zwischen »neuer« und »alter« Mittelklasse, »zu der überwiegend nicht-akademisch Ausgebildete und häufig formal hoch Qualifizierte mit gutem Einkommen aus dem ländlichen Raum zählen«, die »sozialen Abstieg« befürchten müssen, zeigt sich als zu grober Keil, um als Analysewerkzeug zu taugen. Das bemerkenswerte an der neoliberalen Umverteilung ist ja gerade, dass weite Teile der Mittelschicht, die im Fordismus mit tarifvertraglich geregelten Beschäftigungsverhältnissen, auskömmlicher Rente und Eigenheim gut abgesichert waren, nun nach und nach den ökonomischen und sozialen Boden unter den Füßen verlieren. Auch ein Hochschulstudium, das mittlerweile fast 60% eines Jahrgangs beginnen, trägt einen heutzutage keinesfalls automatisch auf die gesellschaftliche Gewinnerseite. Die Folge ist, dass eine durchaus prekarisierte Schicht von Akademikern entstanden ist, die deutlich schlechter gestellt ist als ihre Elterngeneration. Einige wählen nun auch die LINKE – und zwar nicht, weil es kulturell so gut zwischen Yoga und Craft-Beer passt, sondern weil es ihren eigenen materiellen Interessen entspricht.

Die von Baron aufgegriffene These von der »Drei-Drittel-Gesellschaft« hat es in sich. Bemerkenswert ist, dass die »Kaste der Superreichen« zwar erwähnt wird, aber als eigenständiger Teil der Gesellschaft überhaupt nicht vorkommt. Ist das dann eine Dreieinhalb-Drittel-Gesellschaft? Wer von Klassengesellschaft spricht, aber die herrschende Klasse, die Klasse der Produktionsmittelbesitzer, gar nicht mitdenkt, dem kommt das Denken in ökonomischen Interessen, die hinter kulturellen Fragen, wie wer Yoga und wer lieber Kraftsport mag, überhaupt nicht in den Sinn. In wessen Weltbild nur Mitte, Mitte, Unten vorkommt, der kann sich gemeinsame Interessen, die auf mehr als nur Biergeschmack beruhen, gar nicht vorstellen. Wie zum Beispiel, dass vom veganen Koch bis zur Krankenschwester die Mehrheit der Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, und dass sie in einem grundsätzlichen Interessengegensatz zum Kapital stehen. Folgerichtig die These, die heutige Zeit kreise »nicht mehr um Verteilungsfragen, sondern nur noch um die Kultur«. Altersarmut, Lohnkämpfe, Mietenexplosion – alles kein Thema mehr?

Baron wendet zudem einen besonderen Kniff an: indem er behauptet, die neue Mittelklasse spiele Interessen der alten Mittelklasse und der Unterklasse gegen die der Flüchtlinge und der Minderheiten aus, spielt er seinerseits subtil die Interessen von Flüchtlingen und Minderheiten gegen die von ihm so genannte »weiße« Mittelklasse und Unterklasse aus.

Doch was spricht eigentlich dagegen, sich gleichzeitig für die Rechte von Frauen, Schwulen, Lesben, Transsexuellen, Migranten, Flüchtlingen – UND für die Interessen der Industriearbeiter, der Leiharbeiter, der Beschäftigten im Niedriglohnbereich, der Hartz-IV-Empfänger, der Wohnungslosen einzusetzen? Es handelt sich ja nicht zuletzt häufig um dieselben Menschen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen. Was spricht dagegen, allen Versuchen zu widerstehen, eine dieser Gruppen abzuwerten, ihnen ihre Würde, ihren Stolz, ihre legitimen Rechte abzusprechen, Teil dieser Gesellschaft zu sein und sich als ebenjener zu fühlen? Und was, an ihre gemeinsamen Interessen zu appellieren, sich zur Wehr zu setzen gegen jene, die einen Generalangriff auf alle starten, die sich ihrem grenzenlosen Profitstreben entgegensetzen? Das Verbindende in ihren Interessen zu suchen, nicht das Spaltende? Kurz: alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist?

In Barons Artikel ist natürlich nicht alles falsch. Vermutlich ist es leichter für offene Grenzen einzutreten, wenn man seine Kinder in die Privatschule stecken kann und sich gerade eine Eigentumswohnung gekauft hat. Abstiegsängste oder materielle Not machen empfänglich für das Gefühl, in Deutschland wäre nicht genug für alle da und ohne die Flüchtlinge wäre man besser dran.

Wer aber all diejenigen, die sich in den letzten Monaten und Jahren mit großem Einsatz und manchmal bis zur Erschöpfung in der Flüchtlingshilfe engagiert haben, belächelt und sie mit Milliardär Mark Zuckerberg in einen Topf wirft, der muss sich die Frage gefallen lassen, ob es ihm seinerseits nicht am Allerwertesten vorbei geht, dass es Menschen in dieser Gesellschaft gibt, die in puncto Rechten, Lebenschancen und gesellschaftlicher Teilhabe über noch weniger verfügen als die Ärmsten der bereits hier Lebenden. Deren Perspektive ohne Asyl in Deutschland der sichere Tod ist. Und vor allem: der sie nicht als Zugehörige im Grunde ein und derselben Klasse versteht. Vermutlich werden viele der hier ankommenden Migranten und Flüchtlinge mangels Sprachkenntnissen und anerkannter Ausbildung perspektivisch zu niedrigen Löhnen arbeiten und mit hier Lebenden um Wohnraum und Arbeit konkurrieren müssen. Das birgt gesellschaftliche Sprengkraft. Doch eine Linke, die sich auf die Logik des Bootes einlässt, das voller und weniger voll sein kann, hat im Grunde die Hoffnung schon aufgegeben, etwas von dem gewaltigen Kuchen abzubekommen, der in Deutschland zu verteilen ist. In Deutschland gibt es 1,2 Millionen Millionäre. Das sind 1.198.700 Menschen, die mehr als eine Million Euro besitzen, Tendenz steigend. Die deutsche Rüstungsindustrie hat allein im dritten Quartal 2017 1,27 Milliarden Euro Umsatz gemacht und bereitet schon die Flüchtlingswellen von morgen vor. Wäre es nicht an der Zeit, die berechtigte Wut auf die neoliberale Zerstörung des Sozialstaats, auf den größten Niedriglohnsektor Europas und auf die Verachtung der Arbeiterklasse gegen diejenigen zu richten, die wirklich davon profitieren, nämlich die »Kaste der Superreichen«, die Kapitalisten, die verantwortlichen Politiker? Und uns zu überlegen, wie wir unsere Wut in eine Strategie der Gegenmacht verwandeln, um endlich einmal unseren Teil vom Kuchen zu beanspruchen, anstatt uns gegenseitig abzuwerten?

Wahr ist auch: der Neoliberalismus geht einher mit einer kulturellen Diversifizierung. So wie in der Produktion kleinste Produkteinheiten möglich geworden sind, die auf verschiedenste Kundenwünsche kostengünstig reagieren können (und damit die fordistische Massenproduktion abgelöst hat), sind kulturell heterogenste Milieus entstanden, die immer weniger Berührungspunkte miteinander haben. Das macht es einer Linken nicht gerade leicht, gemeinsame Interessen in kollektiven Handlungszusammenhängen zu organisieren. Und doch bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Verschiedenheit anzunehmen und als Chance zu begreifen. Die Arbeiterklasse ist nicht nur weiß, nicht nur männlich, nicht nur heterosexuell und trinkt nicht nur Bier (war sie übrigens nie). Umso wichtiger ist es, Orte und Gelegenheiten zu schaffen, in denen sich die Milieus und Klassen treffen, voneinander lernen und sich für gemeinsame Interessen organisieren können. Das ist schwer und erfordert, alte Gewissheiten gelegentlich über Bord zu werfen. Wenn aber die Linke eine Chance haben will, dem überwältigenden Rechtsruck in allen Lebensbereichen etwas entgegenzusetzen, bleibt ihr nur dieser eine Weg.

Sophie Dieckmann arbeitet bei der LINKEN zu bildungspolitischen Fragen.
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