Der Traum von der Neubauwohnung

Das Leipziger Erzählcafé lässt Messestädter mit ihren Erinnerungen an die 1960er Jahre zu Wort kommen

  • Heidrun Böger, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ich wohnte mit meiner Mutter, meinem Baby und der Oma in einer 30 Quadratmeter großen Wohnung«, erinnert sich Steffi Pritsch. Vier Generationen unter einem Dach. Die Oma schlief in der Küche, sie mit ihrer Mutter im Doppelstockbett im Kinderzimmer, das Baby im Kinderwagen. Der Freund von Steffi Pritsch war geschieden und musste noch anderthalb Jahre mit seiner Ex-Frau in einer Wohnung leben. Dann endlich bekam er eine Wohnung in der Ungerstraße. Sie zogen zusammen, heirateten. Natürlich hatte die neue Wohnung nur Ofenheizung, ein Bad gab es, aber die Toilette war eine halbe Treppe tiefer und mit dem Nachbarn zu teilen. Der durfte in seiner Wohnung nicht Zigarre rauchen und ging dafür auf die Toilette …

Einmal im Monat kommen ältere Leipzigerinnen und Leipziger in der Stadtbibliothek zusammen, um sich zu erinnern, wie es in den 1960er Jahren war. Mit dabei sind Marion Lichtlein (73) und Steffi Pritsch (69). Initiatorin des Erzählcafés ist die Stiftung »Bürger für Leipzig«, die den Menschen die Möglichkeit geben möchte, sich einzubringen und die Erinnerung zu sichern.

Geschichten, wie sie im Leipziger Erzählcafé erzählt werden, können viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger erzählen, Geschichten von Wohnungsnot und Zuzug in die Großstädte nur nach Heirat. Insofern wollen die beiden Frauen, die sich übrigens beim Seniorentanz kennengelernt haben, die alte Zeit nicht wiederhaben. »Der Zusammenhalt war besser damals«, sagt Marion Lichtlein, »es wurde kaum geklaut, alles war billig. Man muss aber aufpassen, dass man die Zeit im Nachhinein nicht verklärt.« Viele Dinge sind heute kaum vorstellbar. Um den Lohn auszuzahlen, fuhr die Buchhalterin mit den Lohntüten von Baustelle zu Baustelle. Geldkarten und Geldautomaten gab es ja noch nicht, Tankstellen hatten am Wochenende zu.

Die Wohnungsnot blieb den meisten wohl am nachhaltigsten im Gedächtnis. Die Zustände in den 1960er Jahren waren in Leipzig aus heutiger Sicht schrecklich, darin sind sich die beiden Frauen einig. Marion Lichtlein wohnte mit Mann, einem kleinen Kind und der Oma in einer winzigen Zwei-Raum-Wohnung unterm Dach. Dann bekamen sie ein ehemaliges Ladengeschäft, das sie selbst ausbauen mussten - eine Hornzsche. Hornzsche war 2010 Sächsisches Wort des Jahres und beschreibt eine ärmliche, verwahrloste Behausung, ein baufälliges Haus, eine schlechte Wohnung. Man könnte auch sagen - eine Bruchbude.

Einfacher war es für die beiden Frauen mit der Arbeit. »Glück gehabt«, ist ihr Kommentar. Aber Engagement und Fleiß gehören auch dazu, so ihre Meinung. Marion Lichtlein arbeitete als Erzieherin in Leipziger Kindertagesstätten: »Immer in großen Einrichtungen. Als der Geburtenknick nach der Wende kam, machten die kleinen Kitas zu, die großen blieben.« Viele Jahre arbeitete sie als Leiterin, ist heute mit ihrer Rente zufrieden. In der Neubauwohnung in Leipzig-Lößnig, die sie 1974 endlich bekam, wohnt sie noch heute mit ihrem Mann. »Bad, Warmwasser, Heizung - ein Traum.« Vier Zimmer, 68 Quadratmeter für die Familie mit zwei Kindern. Die Kinder sind natürlich längst raus. Damals bezahlten die Lichtleins 45 Mark, heute knapp 500 Euro warm.

Steffi Pritsch war Ingenieurökonomin beim Maschinen- und Apparatebau Leipzig-Schkeuditz. Gelernt hatte sie Industriekauffrau, dann machte sie ein Frauen-Sonderstudium. Das erleichterte es damals Frauen mit Kind, zu studieren. Nach der Wende wurde sie arbeitslos: »Aber nur drei Wochen.« Dann Umschulung zur Betriebswirtschaft. Danach arbeitete sie bis zur Pensionierung bei der Deutschen Rentenversicherung, war dort sehr zufrieden.

Wie Marion Lichtlein hat sie viele gute Erinnerungen: »Wir fuhren mit der Brigade zu Kunstausstellungen, ins Kino, feierten zusammen.« Ja, es gab vieles nicht zu kaufen. Aber man habe ruhiger gelebt. Wenn etwas geklaut wurde, dann zum Beispiel Fahrradventile, weil es die nicht gab. »Aber nicht wie heute, wo kein Fahrrad mehr sicher ist.«

Gebadet haben sie in den 1960ern in der öffentlichen Badeanstalt in der Messehofpassage mitten in der Stadt. Da gab es zwei Wannen. Der Junge saß erst beim Vater in der Wanne, dann bei der Mutter. Wäsche waschen war ein Problem, vor allem weil man keinen Platz zum Trocknen hatte. Steffi Pritsch: »Doch der heutige Überfluss ist auch nicht gut. Wenn ich mir eine neue Waschmaschine kaufen muss, ist die Auswahl riesig. Das macht mich wahnsinnig.«

Heutzutage ist alles in Hülle und Fülle vorhanden, und trotzdem gibt es Leute, die viel meckern. Marion Lichtlein: »Unzufrieden waren wir nicht zu DDR-Zeiten.« Es sei ein schönes Leben gewesen, trotz der Einschränkungen. Sie und ihr Mann haben nicht vermisst, nicht ins Ausland fahren zu können. »Die Urlaube in der DDR«, sagt sie, »waren auch schön.«

Die nächsten Veranstaltungen im Erzählcafé der Stadtbibliothek Leipzig: 12.02. 2018: Tanzen, Lust und Liebe

12.03.2018: Messe-Abenteuer

Informationen im Internet unter:

www.buergerfuerleipzig.de

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