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Den Kurs neu bestimmen

17 Jahre nach Porto Alegre ist der Linksruck in Lateinamerika zu Ende

  • Niklas Franzen, Salvador da Bahia
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Gipfel kommt nach Hause. So sehen es zumindest viele Linke aus Brasilien. Denn: Nach neun Jahren Abstinenz findet das Weltsozialforum (WSF) in diesem Jahr wieder in seinem Geburtsland statt. Heute startet in der Küstenmetropole Salvador da Bahia das fünftägige Programm. Zehntausende Teilnehmer aus der ganzen Welt werden erwartet. Die Frage bleibt: Wie lassen sich Alternativen zum Neoliberalismus aufbauen?

Das erste Weltsozialforum fand im Jahr 2001 in der südbrasilianischen Hafenstadt Porto Alegre statt. Konzipiert wurde das Treffen als Gegengipfel zum Davoser Weltwirtschaftsforum und den jährlichen Gipfeln der Regierungschefs der G8-Staaten. Zum ersten WSF kamen rund 15 000 Teilnehmer*innen, vier Jahre später waren es zehnmal so viele. Die Megakonferenz knüpfte ideologisch und rhetorisch auch an den Aufstand der mexikanischen Zapatisten an. »Eine andere Welt ist möglich«: Die selbstbewusste Losung des WSF wurde zum Leitspruch der globalisierungskritischen Linken weltweit.

In Lateinamerika waren die Jahre der ersten Gipfels Zeiten des Aufbruchs. Der politische Linksruck erfasste weite Teile des Kontinents. In vielen Ländern kamen progressive Präsidenten an die Macht wie in Brasilien der Ex-Gewerkschafter Luiz Inácio »Lula« da Silva, der indigene Kokabauer Evo Morales in Bolivien und in Argentinien der Linksperonist Néstor Kirchner.

Auf dem WSF entwickelten sozialen Bewegungen und Regierungslinke gemeinsam Strategien gegen den Neoliberalismus. Dem heimischen und internationalen Kapital wurde ebenso der Kampf angesagt wie den USA. Nach Gastspielen in Indien, Kenia, Senegal und Tunesien fand das WSF zuletzt im Jahr 2016 im kanadischen Montreal statt - zum ersten Mal im Globalen Norden. Das mediale Interesse ist von Jahr zu Jahr gesunken. In diesem Jahr könnte das WSF allerdings wieder eine zentralere Rolle spielen. Denn die Linke sieht sich rund um den Globus vor großen Herausforderungen.

In Lateinamerika steht der »progressive Zyklus« vor dem Ende. Schwere Wirtschaftskrisen haben die Euphorie der Nullerjahre gebremst und die alten Eliten haben in vielen Ländern wieder die Macht an sich gerissen - sowohl durch Putsche, als auch durch Wahlen. »Wir dürfen nicht sehnsüchtig zurückblicken, sondern müssen versuchen, eine neue progressive Ära aufzubauen. Das Weltsozialforum wird uns die Möglichkeiten geben den Kurs der Linken neu zu bestimmen«, sagt Wagner Moreira dem »nd«. Moreira ist Aktivist der Wohnungslosenbewegung MSTB in Salvador da Bahia. Die Wohnungslosen werden das WSF mit zahlreichen Aktivitäten begleiten. Zum Start des WSF hat die Bewegung in der Peripherie der Stadt ein leerstehendes Gelände gegen die massive Wohnungsnot besetzt.

Der Plan, den linken Gipfel in Salvador auszurichten, entstand beim letzten WSF in Montreal - auch weil Bahia einer der letzten Bundesstaaten Brasiliens ist, der von der Arbeiterpartei PT regiert wird. Zudem hat Salvador eine lange Tradition von sozialen Bewegungen. In der ehemaligen Hauptstadt Brasiliens ist die große Mehrheit der Bevölkerung schwarz. Der Kampf gegen Rassismus wird daher in diesem Jahr ein zentrales Thema sein und afrobrasilianische Organisationen werden dem Gipfel ihren Stempel aufdrücken.

Bis zu 60 000 Teilnehmer aus 120 Ländern werden in den nächsten Tagen in der drittgrößten Stadt Brasiliens erwartet. Hunderte Vorträge, Seminare und Treffen sind geplant. Demonstrationen und kulturelle Veranstaltungen begleiten das Programm. Die Veranstaltungen sind selbstorganisiert, ein striktes Programm gibt es nicht. Die meisten Events finden auf dem Campus der staatlichen Universität von Bahia (Ufba) statt. »Widerstehen heißt gestalten, widerstehen heißt verändern«, lautet das auf Deutsch etwas sperrig klingende Motto.

Die Palette der Themen ist breit: Kritik am unfairen Welthandel, Demokratisierung, Umweltgerechtigkeit, Menschenrechte. Auch feministische und LGBT-Gruppen haben sich seit dem ersten Gipfel vor 17 Jahren ihren Platz erkämpft. Was eint: die Kritik am neoliberalen Kapitalismus. Auf dem WSF werden die unterschiedlichsten Menschen und Gruppen aufeinander treffen: Soziale Bewegungen, Parteien, indigene Gemeinden, städtische Intellektuelle, Gewerkschaften, linke Theologen, Öko-Aktivisten.

Die Heterogenität des WSF macht eine gemeinsame Artikulation schwer. Allerdings soll es weniger darum gehen, verbindliche Resolutionen zu verabschieden oder Entscheidungen zu treffen. Das WSF ist primär als Ort der Vernetzung und des Erfahrungsaustausches gedacht - als transnationaler Brückenbau progressiver Kräfte. Und vor allem soll gezeigt werden: Der Widerstand gegen den Neoliberalismus lebt. Für den Wohnungslosenaktivist Moreira steht fest: »Gerade in diesen schwierigen Zeiten muss das Weltsozialforum wieder eine zentrale Rolle für die Linke spielen.«

Viele lateinamerikanische Politiker haben bereits ihre Teilnahme bestätigt. Am Donnerstag werden sich ehemalige Staatschefs wie Lula, der Uruguayer José Mujica und Fernando Lugo aus Paraguay im Fußballstadion von Salvador von Tausenden feiern lassen. Mit Spannung wird erwartet, ob auch der umstrittene venezolanische Präsident Nicolás Maduro aufkreuzen wird. Brasilianische Linke befürchten indes, dass die Arbeiterpartei PT das Weltsozialforum für Wahlkampfzwecke instrumentalisieren könnte. Der Aktivist Moreira sagt dazu: »Die PT und andere Vertreter der institutionellen Politik waren am Aufbau des Weltsozialforums maßgeblich beteiligt, daher sehe ich kein Problem, dass sie auf dem Gipfel auftreten.« Viele hoffen auf einen Schulterschluss der derzeit stark verunsicherten brasilianischen Linken.

Denn das WSF findet in Zeiten einer beispiellosen Krise des Gastgeberlandes statt. Im Jahr 2016 wurde die regierende Präsidentin der Arbeiterpartei PT, Dilma Rousseff, durch ein juristisch fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren abgesetzt. Ihr Nachfolger, der rechtsgerichtete Michel Temer, hat eine neoliberale Zeitenwende eingeleitet und baut mit Hockdruck zahlreiche Rechte ab, die sich Brasilianer über mehrere Jahrzehnte erkämpft hatten. Rechtsradikale und christliche Fundamentalisten gewinnen immer mehr Einfluss. Und die Wirtschaftskrise trifft das Land hart. Der charismatische Ex-Präsident Lula, der in alle Umfragen für die Wahlen im Oktober klar vorne lag, wurde unlängst in zweiter Instanz verurteilt und darf nicht antreten. Das hat die Linke ratlos zurückgelassen. Denn eine realistische Alternative auf parlamentarischer Ebene gibt es nicht.

Auch das WSF bekommt den Abwärtstrend im größten Staat Lateinamerikas zu spüren. Viele Großsponsoren, die das WSF in Porto Alegre unterstützt hatten, sind abgesprungen. Gerade einmal die Hälfte des angestrebten Budgets konnte gesammelt werden. Die Vorbereitungen des WSF muten bisweilen chaotisch an. Das Programm wurde erst in letzter Minute fertiggestellt. Dennoch sind sich die Veranstalter sicher, dass das WSF auch weit über Brasilien hinaus Wellen schlagen wird.

Traditionell beginnt der »Gipfel der Gerechten« mit einem Marsch. Auch in Salvador wird das WSF mit einer Demonstration starten. Tausende werden in der tropischen Hitze durch die Stadt ziehen, Einheit beschwören und wieder hinausrufen: »Eine andere Welt ist möglich.«

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