Chronik eines angekündigten Scheiterns

Die Schuld am Fiasko um Chris Dercon an der Volksbühne liegt bei der Politik

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.

März 2015: Ein banaler Coup

Berlins Regierender Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller (SPD) gibt bekannt, dass der Leiter des Museums Tate Modern in London, Chris Dercon, im Herbst 2017 als Nachfolger des seit 1992 amtierenden und außergewöhnlich beliebten Frank Castorf neuer Intendant der Volksbühne werde. Eingefädelt habe den Deal der Berliner Kulturstaatssekretär und ehemalige Musikmanager Tim Renner (SPD).

April 2015: Wer Wind sät

Die Reaktionen auf die Personalie fallen überwiegend negativ aus. Besonders die Wortmeldung von Claus Peymann, dem Intendanten des Berliner Ensembles, erregt Aufmerksamkeit. Er schreibt einen Offenen Brief an Müller und nennt Renner darin »die größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts«. Peymann warnt vor der Abwicklung des wichtigen Sprechtheaters und dessen Verwandlung in einen »Event-Schuppen«.

Juni 2016: Die Belegschaft wehrt sich

Nach einem Jahr der rhetorischen Aufrüstung aller Seiten protestiert die Belegschaft der Volksbühne in einem Offenen Brief an die Parteien des Berliner Abgeordnetenhauses gegen Dercon. Die Mitarbeiter vermissen ein Konzept für das Haus.

September 2016: Ein bisschen Machtwechsel

Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus koaliert die SPD mit Grünen und Linkspartei. Renner muss gehen, Müller übergibt das Amt des Kultursenators an Klaus Lederer (Linke). Der war stets gegen die Personalie Dercon.

März 2017: Das Rad muss weg

Kurz vor dem Ende der Saison beschließen die Volksbühnenmitarbeiter, dass das zum Sinnbild der Ära Castorf avancierte »Räuberrad« auf dem Rosa-Luxemburg-Platz im Sommer entfernt wird. Zudem soll der Schriftzug »OST« vom Gebäude verschwinden.

Mai 2017: Pressekonferenz des Jahres

Chris Dercon stellt sein erstes Spielzeitprogramm vor. Die Kritiker sehen sich bestätigt: Dercon hat nicht vor, mit einem festen Ensemble zu arbeiten. Auf dem Plan stehen überwiegend eingekaufte Produktionen.

Juni 2017: Demonstrative Demütigung

Die rot-rot-grüne Regierung bestellt Dercon vor den Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses. Dort fragt niemand, warum er als Intendant kein Ensemble installieren will. Stattdessen muss er sich fragen lassen, welche »ästhetische Klammer« sein Konzept vorsehe. Eine unzulässige Einmischung der Politik in künstlerische Belange, die Dercon zum Sieger der Veranstaltung macht.

September 2017: Der Senator lässt räumen

Noch läuft der Betrieb im Haus nicht, da besetzen linke Aktivisten die Volksbühne. Dabei geht es nicht nur um Dercon: Sie wünschen sich ein Theater, das zu einem offenen Raum für die politische Auseinandersetzung wird. Nach einer Woche lässt Dercon unter ausdrücklicher Billigung des Kultursenators die Volksbühne polizeilich räumen - durch die Hintertür, damit über das rot-rot-grüne Berlin keine Law-and-Order-Bilder kursieren können.

April 2018: Ende mit Schrecken

Chris Dercon gibt sein Amt auf. Laut dem Berliner Senat haben sich der Intendant und Klaus Lederer einvernehmlich darauf verständigt, die Intendanz sofort zu beenden. Offenbar waren die Einnahmen durch Ticketverkäufe und Sponsoring so gering, dass dem Haus der finanzielle Kollaps drohte. Kommissarischer Intendant ist Klaus Dörr, der erst kurz zuvor durch die Politik zum neuen Geschäftsführer der Volksbühne berufen wurde.

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