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»Dürfen öffentlichen Raum nicht verlieren«

Jüdisches Forum: Auch nicht-jüdische Menschen sollten gerade jetzt Kippa tragen

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 4 Min.

Was muss gegen den in Deutschland zunehmenden Antisemitismus getan werden? Das »Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus« (JFDA) hat am Mittwoch in seinen Geschäftsräumen in Berlin Eckpunkte für eine nachhaltige Strategie zur Bekämpfung von Judenhass vorgestellt.

»Der Kampf gegen Antisemitismus muss in Deutschland als eine nationale Aufgabe gesehen werden«, sagte Levi Salomon, Sprecher des JFDA. Wenn ein Mensch auf offener Straße attackiert wird, weil er wegen seiner Kippa oder anderer religiöser Symbole als Jude wahrgenommen werde, sei das nicht nur ein gewalttätiger Übergriff auf einen Einzelnen. »Antisemitismus ist ein Angriff auf das ganze freiheitlich-demokratische Gemeinwesen in unserem Land«, sagte Salomon.

Nach Einschätzung des JFDA müssten vor allem die Perspektiven der von Judenhass Betroffenen stärker in den Mittelpunkt der Debatte gerückt werden, um wirksam gegen antisemitisches Gedankengut vorzugehen. »Die Wahrnehmung der Betroffenen muss als ein wesentlicher Indikator für Lagebeurteilungen ernst genommen werden«, forderte Salomon. Offizielle Zahlen und Statistiken zu judenfeindlichen Straftaten seien »nicht wirklich aussagekräftig«.

Nach Angaben der Polizei wurden im vergangenen Jahr in Deutschland 1453 antisemitische Straftaten registriert. Bei 1377 aller Delikte gehen die Behörden von rechtsextrem motivierten Tätern aus. 33 Straftaten werden ausländischen Judenfeinden ohne islamistischen Hintergrund zugeschrieben. Weitere 25 Delikte »religiös motivierten« Antisemiten, also zumeist muslimischen Tätern ausländischer sowie deutscher Staatsangehörigkeit.

Bei 17 Straftaten war es der Polizei trotz erkennbarem Judenhass nicht möglich, ein politisches Milieu samt Motiv zu ermitteln. Nur ein einziges Delikt, eine von 898 Volksverhetzungen, war nach Erkenntnissen der Polizei 2017 linkspolitisch motiviert.

Mit Blick auf die offiziellen Zahlen sprach Salomon von einer Kluft zwischen der Statistik und der Wahrnehmung innerhalb der jüdischen Gemeinden. »Wenn ich mit Gemeindemitgliedern spreche und frage, vor wem oder was sie auf der Straße Angst haben, ist die Antwort immer dieselbe: Vor dem aggressiven Judenhass arabisch-muslimischer Couleur«, sagte Salomon, der auch Repräsentant in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ist. Diesen Umstand anzuerkennen sei unerlässlich, um ein langfristiges gesellschaftliches Engagement gegen jedwede Form von Judenhass zu ermöglichen.

Carl Chung, Koordinator für Politische Bildung beim JFDA, ergänzte, dass die Statistiken nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit abbildeten. »Die Polizei kann nur solche Vorfälle erfassen, die strafrechtlich relevant sind, zur Anzeige gebracht werden und von den Behörden als antisemitisch eingestuft werden.« Man müsse daher von einer wesentlich höheren Dunkelziffer an judenfeindlich motivierten Übergriffen ausgehen. Insbesondere für den Bereich Schule mangele es weiterhin an Daten.

»Die Einführung einer bundesweiten Statistik zu religiös motivierter Gewalt an Schulen ist eine unabdingbare Notwendigkeit«, sagte Chung.

Problematisch an den offiziellen Zahlen sei auch, dass verschiedene Formen des Antisemitismus gar nicht als solche von den Behörden identifiziert würden, bemängelte Chung. Er plädierte dafür, die »Arbeitsdefinition Antisemitismus« der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken anzuwenden. Demgemäß sind feindselige Haltungen und Aktionen gegen jüdische Personen und Einrichtungen sowie Hasskommentare gegen Israel, verstanden als jüdisches Kollektiv, als Antisemitismus zu betrachten. Die Bundesregierung gehe mit der Nutzung der Definition mit gutem Beispiel voran.

JFDA-Sprecher Salomon rief dazu auf, sich im öffentlichen Raum zum Tragen der Kippa zu bekennen. »Jüdische und nichtjüdische Menschen sollten gerade jetzt die Kippa tragen. Wir dürfen den öffentlichen Raum weder islamistischen noch rechtsextremen Antisemiten überlassen«, sagte Salomon. Die Solidaritätskundgebungen in vielen deutschen Städten unter dem Motto »Deutschland trägt Kippa« begrüßte Salomon als »starkes Zeichen der Bevölkerung«.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hatte Anfang der Woche Einzelpersonen davon abgeraten, sich in Großstädten offen mit einer Kippa zu zeigen. Stattdessen sollte man »eine Basecap tragen«, wie Schuster gegenüber dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) sagte. Der jüdische Journalist und JDFA-Mitglied Reinhard Borgmann hat Verständnis für Schusters Empfehlung als einen »fürsorglichen Akt gegenüber der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland«, wie Borgmann sagte. Er persönlich fühle sich nicht frei, seine Religion offen zu zeigen. »Was für viele andere Menschen selbstverständlich ist, ist für Juden eine Gefahr für Leib und Leben.«

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