Aufputschmittel für Ketzer und Ketzerinnen

Der Niederländer Dick Boer offeriert eine theopolitische Existenz von gestern, für heute

  • Klaus Weber
  • Lesedauer: 4 Min.

Wir laufen stundenlang gegen den stürmischen Wind der Nordsee an und diskutieren: über die Abgründe und Höhepunkte marxistischen Denkens, über meinen hoffenden Unglauben in dieser ungerechten Welt und über die Fragen einer Möglichkeit, sie zu einer besseren zu machen. Dick Boer, den ich Freund nenne, obwohl wir uns selten begegnen, schreibt seit Jahrzehnten für das Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus. Mitte der 1990er Jahre sehe und höre ich ihn zum ersten Mal auf einer Tagung: Den Kopf leicht geneigt, den Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen intensiv zuhörend, ist jedes Wort der Entgegnung oder Zustimmung bedacht, leise und freundlich. Seit ich ihn kenne, zweifelt er daran, dass ich ungläubig bin - und stärkt mit seiner Kontraposition eigenartigerweise meine Hoffnung in der politischen Arbeit. Dick ist Theologe (er war Pfarrer der Niederländischen Gemeinde in der DDR) und Marxist. Was nun im Argument-Verlag vorliegt, sind seine Predigten und Schriften, die seine theologischen sowie politischen Standpunkte (und die Zweifel daran) zusammendenken.

Boer begreift die Bibel als Schrift der praktischen Befreiung aus dem Joch jeglicher Herrschaft (mit dem Auszug aus Ägypten als Initialzündung aller Befreiungsbewegungen) und die marxistischen Schriften - aber auch den «realen Sozialismus» - als Hoffnungsträger einer neuen Welt. Dabei ist Boer - selbst mit einem «erstarrten Sozialismus», wie er ihn in der DDR erlebt - solidarisch: «Die DDR in ihrer Niederlage preiszugeben, als hätte sie es besser nie gegeben, empfand ich als Verrat an den vielen Menschen, die ihre Hoffnung auf sie gesetzt hatten und jetzt um diese Hoffnung betrogen worden waren.» Nach dem Untergang des «realen Sozialismus» stellt sich die Hoffnungsfrage so dringlich wie nie. Boer macht sich keine Illusionen darüber, dass Befreiung auch immer heißt, mit gescheiterten Projekten und Niederlagen angesichts der Übermacht der Herrschenden leben zu müssen. Doch auch diesen «Siegen» gegenüber verliert er nicht seinen klaren Blick, wenn er deutlich macht, «dass die herrschende Ordnung, gegen die die Befreiungsbewegung angetreten ist, hoffnungslos verloren ist, auch wenn sie gesiegt hat». Der Sieg des Kapitalistischen ist - vom Standpunkt einer Welt der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Liebe - ihr Untergang.

Doch was ist mit den Ausgebeuteten, den Elenden, Geknechteten, Gedemütigten? Ist damit nicht auch deren Untergang besiegelt? Ja und nein. Boer - in der Dialektik der Niederlage erfahren - kennt die «Macht der Ohnmacht: Wir vermögen nichts, als zu schreien. Dies, was ist, kann nicht wahr sein. Um so zu schreien, braucht man kein Christ zu sein. Ich kann jedoch auch nicht unterdrücken, »dass ein solcher Schrei den ›Sitz im Leben‹ der biblischen Befreiungsgeschichte bildet«. Dieser Schrei der Ohnmacht benötigt klares Denken und Menschen, die daraus neue Hoffnung ziehen: Beispielhaft zeigt Boer an Bert Brecht, Anna Seghers, Heiner Müller und Volker Braun, wie Niederlagen, Hoffnung und das Verrücktwerdenkönnen am »realen Sozialismus« allemal besser sind, als sich »dem Westen« auszuliefern.

Seit Jahrzehnten ist Boer in Gemeinden aktiv: christlichen wie marxistischen. Selbst das marxistische Wörterbuch und seine international verstreuten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind ihm als Gemeinde wertvoll, auch wenn ein gemeinsames Treffen nur selten stattfindet. Sein Denken und Leben in kommunitären Bezügen ermöglicht und zielt gleichzeitig auf ein Durchhalten bei den Mühen des Kampfes.

»Keiner hat sein Leben eingesetzt, weil er ›Das Kapital‹ gelesen hat«, ein Ausruf einer kubanischen Marxistin, ist der Titel des eindrucksvollsten Beitrags des Buches. Darin wird verhandelt, ob und wie wir - als Atheisten wie als Christen - die Utopie einer besseren Welt angesichts der Übermacht der gegnerischen Kräfte denken und leben können. Credo aller Menschen, die sich der Fesseln der herrschenden Ordnung entledigen wollen, ist das Tun (»das Tun der Thora« würde der gläubige Jude sagen): »Wer nicht glaubt, dass eine andere Welt möglich ist, wird resignieren.« Deshalb ist es nötig, immer wieder - trotz der schieren Unmöglichkeit einer Revolution - »alle Verhältnisse zu kritisieren, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Die Kritik am Bestehenden kann geübt werden, und die Hoffnung auf etwas Nie-Dagewesenes kann es geben, tagtäglich. Nur so wird Selbstveränderung und Arbeit für eine veränderte Welt überhaupt möglich. Wer sich zurücklehnt und das Handeln aufgibt, hat sich und eine gerechte Welt aufgegeben. Boers Buch ist ein dialektisches Aufputschmittel für Ketzer und Ketzerinnen der Wirklichkeit, er ein Prediger des Unmöglichen, das wir realistisch in Betracht ziehen sollen.

Am letzten Tag meines Amsterdam-Besuchs gehe ich mit Dick in einen Gottesdienst seiner Gemeinde. Noch nie war mir die Vorstellung einer möglichen »roten Zukunft« so nah wie mit den politisch aktiven Christen, die in einem schlichten Raum ihr Leben und das Zusammensein auf eine Art und Weise feiern, dass der Vorschein von Kommune spürbar ist.

Dick Boer: Theopolitische Existenz - von gestern, für heute. Berliner Beiträge zur Kritischen Theorie. Argument-Verlag, 384 S., geb., 27 €.

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